Adrift
Es war eine kalte Nacht und ich fror mir während meiner Feuerwache den Arsch ab. Ich hätte mich nicht beschweren sollen, hatte es doch wenigstens aufgehört zu regnen. Sahna hatte da weniger Glück. Er war durchnässt gewesen und hatte Mühe das Feuer überhaupt am Brennen zu halten. Diese Erkundungsreise war viel anstrengender als ich es von Reisen mit unserer Sippe gewohnt war. Wir hatten nur unsere Felle, unsere Waffen und ein paar Werkzeuge mitgenommen. Alles andere, was sich in unseren Taschen befand, hatten wir auf dem Weg gesammelt. Wir lebten von der Hand in den Mund. Es verging schon mehr als ein Tag, an dem wir uns hungrig zur Ruhe legten. Und wenn für mich diese Reise von Tag zu Tag leichter wurde, weil ich mich an die neuen Bedingungen anpasste, so wurde sie für Sahna sichtlich schwerer. Auch wenn ihm bewusst war, dass diese Erkundung ihre Berechtigung hatte, so weigerte sich etwas in ihm.
Erst gestern gelang es mir, nach Wochen des Zuredens, ihn davon zu überzeugen, dass es seinem Vater gut ginge und er auf uns warten würde, wenn wir heimkämen. Immer noch leicht widerwillig, aber doch einlenkend nickte er mir zu. Nichtsdestotrotz war ich mir bewusst, dass wir nicht mehr allzu weit ziehen sollten. Der Dschungel durch den wir uns seit Tagen kämpften, war sehr dicht geworden. Und auch allerlei Getier wuselte um uns herum. Über unseren Köpfen schwangen sich behaarte Affentiere artistisch von Baum zu Baum und auch am Boden tummelten sich viele kleine Insekten und andere Wesen. Die Einzigen die uns etwas Respekt abnötigten waren die Schlangen, diese häuften sich, je tiefer wir in den Dschungel vordrangen. Mehr als einmal konnten wir nur knapp ihren Bissen entgehen. Das war etwas, was mir Großvater schon als Kind beigebracht hatte. Aber auch wenn ich mich inzwischen an das Reisen gewöhnt hatte, so fühlte ich mich beim Übernachten im Dschungel immer weniger heimisch. Auf Dauer schien es mir unwirtlicher, als der karge Norden den uns Großvater immer beschrieb.
Ich kroch noch etwas näher an das Feuer heran und legte ein paar Äste nach. Die Äste hier waren leider sehr feucht und brannten nur schlecht, aber ich war froh überhaupt etwas Wärme zu haben. Ich stocherte dabei immer etwas in der Glut und wartete auf den Moment in dem die vorher noch feuchten Äste endlich Feuer fingen. Damit einher ging immer ein kleiner Lichtblitz. Eigentlich hätte ich wegschauen sollen, aber bei dem Warten verging die Zeit irgendwie schneller. Zumindest kam es mir so vor. Es dauerte noch ein wenig, aber dann kam der erwartete kurze Lichterschein und ich war etwas geblendet. Zum Schutz hielt ich mir die rechte Hand vor die Augen, als ich etwas hörte. Zunächst dachte ich es wäre nur das Knistern des Feuers, aber je mehr ich versuchte mich darauf zu konzentrieren, desto eher kam ich zu dem Schluss, dass es das Rauschen eines Flusses sein könnte.
Aber das Rauschen kam aus einer ganz anderen Richtung als der, wo der Marelar River floss. Da war ich mir sicher, war ich doch noch vor Einbruch der Nacht dort gewesen, um mir etwas Wasser zu holen. Ich stand auf und nahm meinen Speer. Leisen Schrittes folgte ich dem Geräusch des rauschenden Wassers. Sahna schien nicht geweckt worden zu sein. Ich ließ ihn weiter schlafen, weil das Rauschen nicht weit entfernt schien. Ich wunderte mich zwar, dass es uns nicht früher aufgefallen war, aber andererseits war es vielleicht auch unserer Müdigkeit nach einem anstrengenden Tag geschuldet. Schritt um Schritt arbeitete ich mich durch dichtes Geäst und von den Ästen hängende Lianen vorwärts. Obwohl es Nacht war schien der ganze Dschungel geschäftig wie am Tage. Immer wenn ich einen Schritt machte, scheuchte ich Tiere auf oder Insekten fielen mir auf den Kopf oder meine Schulter. Das war zwar lästig, aber irgendwie schaffte ich dann doch eine Lichtung zu erreichen.
Was ich dann sah, raubte mir den Atem. Der Vollmond, den man im Dschungel nicht erkennen konnte, schien auf ein riesiges Katarakt . Er war wundervoll, mindestens zehnmal so hoch wie die Wipfel des Dschungels. Das fallende Wasser schien so glatt, dass sich der Vollmond perfekt darin spiegelte. Nur am Boden des Kataraktes war eine fast baumhohe Gischt, die silbern im Mondenschein leuchtete. Auf der kleinen Lichtung war es fast taghell.
Gebannt von der Schönheit des Anblicks rief ich laut nach Sahna. Es war kein weiter Weg, also hoffte ich, dass er mich hören würde. Es dauerte nicht lange und es raschelte hinter mir. Da wusste ich, dass er auf dem Weg war. Leises Fluchen warum ich seinen Schlaf unterbrochen hatte begleitete seinen Weg zu mir. Seine Beschimpfungen kamen immer näher und wurden immer lauter. Doch als das Fluchen plötzlich verstummte wusste ich, dass er dasselbe sah wie ich. Ein einmaliger Moment tat sich vor uns auf. Wir setzten uns an das Ufer des Flusses und verfolgten das Schauspiel solange es andauerte. So etwas hatte ich weder vorher gesehen noch sollte ich es jemals wieder sehen dürfen.
Irgendwann wechselten sich dann Mond und Sonne ab. Während ich die Aussicht genoss schaute sich Sahna etwas um. Er stellte fest, dass sich der Fluss wenige Schritt entfernt teilte. Ein Zweig floss in Richtung Marelar und ein weiterer in die entgegengesetzte Richtung. Verwundert ob der riesigen Wassermengen die an uns vorbeiströmten hielten wir einen Moment inne. Sahna meinte dann, dass dieser Ort von Aquarius gesegnet sein muss, so anmutig und doch stark wie er sei. Danach ging er auf die Felswand zu und begann die Klippe des Kataraktes zu erklimmen. Ich rief ihm noch nach vorsichtig zu sein. Aber er hielt nur einen Moment an und winkte ab. Danach kletterte er weiter. Alleine schon bei dem Gedanken an die Höhe wurde mir schlecht. Aber er schaffte es tatsächlich. Als er oben angekommen war hielt er kurz inne und kletterte danach wieder die Wand herab. Währenddessen tobte ich etwas in dem kleinen See, welcher sich am Boden des Kataraktes befand. Auf seinem Rückweg rief mir Sahna etwas zu, das ich aufgrund unserer Entfernung und wegen des Rauschens nicht ganz verstand. Aber als ich mich dann umdrehte sah ich ihn aus Höhe der Baumwipfel in den See springend. So schnell ich konnte rannte ich zu der Stelle des Sees, um zu sehen wie es ihm ging. Es dauerte einen Moment, aber dann tauchte er auf. Er hielt sich den Kopf und war am Jammern. Er schien relativ „OK“ zu sein und ich konnte mir ein kleines Grinsen nicht verkneifen. Er kratzte sich noch einmal am Kopf und fluchte dann, warum das Wasser denn so hart gewesen sei. Eigentlich sei Wasser doch weich, meinte er. Und wo er die Frage aufwarf überlegte auch ich, aber eine Antwort darauf fand ich genauso wenig wie er. Aber auf jeden Fall war diese eine Geschichte, die ich noch meinen Kindern erzählen würde.
Er berichtete mir, dass er, so weit sein Auge reichte nur tiefsten Dschungel gesehen hatte. Das war der Moment an dem wir uns entschieden wieder nach Ver’ laieu zurückzukehren. Genug war erkundet. Genug neue Nahrungsquellen hatten sich aufgetan und sogar neue glitzernde Werkstoffe hatte man gefunden. Eine ansehnliche Ausbeute für eine kleine Erkundung befanden wir. Bevor wir diesen scheinbar magischen Ort verließen, ritzten wir in den größten Baum das Symbol der Göttin Aquarius und beschlossen dieses Naturschauspiel den Aquarius-Katarakt zu nennen. Ein letztes Mal blickten wir zurück...
Wir gingen zurück zu unserem Nachtlager und machten uns auf den Heimweg. Wir orientierten uns dieses Mal direkt am Marelar und passierten einige unserer vorher genutzten Lagerorte. Nicht, dass wir besonders viel vorbereiten würden, aber dennoch war diese Vorarbeit eine kleine Arbeitserleichterung und gönnte uns etwas mehr Ruhephasen an den Abenden. Mit jedem Tag, den wir unserer Heimat näher kamen wurde Sahna unruhiger. Manchmal wollte er einfach eine Lagerstätte auslassen und weiter marschieren. Irgendwie konnte ich ihn ja verstehen, aber dennoch überredete ich ihn jedes Mal aufs Neue, seinem Körper etwas Ruhe zu gönnen. Ich merkte es ja schon bei mir, dass diese letzten Wochen nicht ganz spurlos an mir vorüber gegangen waren.
Nun nahmen wir auch von jeder Nutzpflanze, die wir gefunden hatten, eine größere Menge mit. Mit jedem Tag wurde unser Gepäck immer schwerer und Sahna’s Wille im Gegensatz immer unbelehrbarer. Schließlich an dem Tag, an dem wir wieder bei dem Feld mit den gelben Gräsern ankamen, ließ er sich nicht mehr aufhalten. Er bat mich seinen Teil der Proben zu nehmen, sodass er direkt nach Ver’ Laieu zurückkehren konnte. Ich nickte nur und nahm ihm seine Ledertasche ab. Er lief direkt weiter, während ich noch zum Feld der Gräser ging. Es war zwar nicht mehr weit, aber ich war nicht mehr in der Lage so zu Laufen wie er es tat. Ob nun mit oder ohne die Ledertaschen war da egal. Nachdem ich fertig war zog auch ich gen Heimat. Die Sonne war bereits untergegangen, als ich die Ausläufer der Seguan Range erreichte. Allerdings war wieder Vollmond, daher konnten wir die zurückgelegte Entfernung relativ gut in einen zeitlichen Zusammenhang bringen. Es dauerte einen Zyklus zu dem Katarakt und dementsprechend eine Lunation für den Hin- und Rückweg.
Die Vorfreude in mir stieg, als ich am Horizont unsere kleine Siedlung entdeckte. Es war zwar schon Nacht, aber das Lagerfeuer brannte hoch und bot einen von weither sichtbaren Erkennungspunkt. Doch als ich das Dorf erreichte musste ich zu meiner Verwunderung feststellen, dass das Feuer unbeaufsichtigt war. Anscheinend hatte jemand einfach Holz nachgelegt und war wieder gegangen. Ich legte meine Taschen etwas abseits des Feuers ab und trank einen Schluck Wasser. Ich schaute mich kurz um, in der Hoffnung jemanden zu finden. Nichts rührte sich mehr. So entschied ich mich zum Mare-See zu gehen, um mich zu baden. Ich machte mich auf den Weg in den Wald, herein als ich einen lauten Schrei „Neeeiiin“ hörte. Ich wunderte mich und ging etwas schneller. Ich verfluchte meine Beine und Füße, dass sie mir fast den Dienst verweigerten. Doch dann näherte ich mich dem See und konnte den Vollmond auf dem See gespiegelt sehen. Mein Blick war sofort von einer Person gefesselt, die im See stand und sich über etwas beugte gebeugt war. Ich ging zum Ufer und bewegte mich langsam auf die Person zu. Je näher ich kam, desto schärfer wurden die Konturen. Es war Sahna, der schluchzend über einen Körper gebeugt stand. Die Tränen flossen seinen Wangen herab und sein Schluchzen erfüllte die Umgebung mit einem seltsam melancholischen Gefühl. Meine Schritte wurden langsamer und ich kam zum Stehen. Ich mag nicht der Schlaueste unserer Sippe sein, aber auch ich wusste, wer dort auf dem Wasser trieb. Auch in mir stiegen die Tränen herauf und ich schluchzte. Doch dieser Moment gehörte Sahna. Er musste sich verabschieden. Doch weder er noch ich sollten dieses Erlebnis jemals ganz verwinden können.
Ich ging mit kleinen Schritten und gesenktem Kopf zurück Richtung Ufer und setzte mich. Ich zog meine Knie an und fing an, laut zu heulen. Immerhin war ich daran schuld, dass er seinen Vater nicht mehr lebend gesehen hatte. „Hätte ich doch nur eine Nacht auf ihn gehört und wäre durchmarschiert“, dachte ich mir ununterbrochen und verfluchte mich selbst. Plötzlich spürte ich etwas Warmes auf meinem Rücken. Jemand legte die Arme von hinten um mich. Ich war überrascht, aber als ich Riho’s Stimme vernahm beruhigte ich mich das etwas. Diese Szene mit Sahna, seinem Vater im Wasser, sowie Riho und mir am Ufer sollte noch bis zum Morgengrauen andauern und es flossen noch viele Tränen. Auch wenn wir drei zu den Jüngeren aus der Sippe gehörten, so standen wir Großvater doch am Nächsten. Zumindest bildeten wir uns das ein. Das machte diesen Verlust besonders schmerzlich.