3. Zur Geschichte der Aaroniden
Die gegensätzlichen Beurteilungen Aarons sind am ehesten mit
Rivalitäten zwischen verschiedenen Priestergruppen zu erklären.
3.1. Die Priesterschaft von Bethel während der Königszeit
→ Bethel war zur Zeit des Nordreichs der Sitz des Staatskultes, doch wurde der Ort nach der assyrischen Eroberung 722 v. Chr. nur noch negativ als Hort des Sünde beurteilt. Da nichts dafür spricht, dass es sich bei der Verbindung Aarons mit Bethel um eine völlig fiktive antiaaronidische Polemik handelt,
galt Aaron ursprünglich vermutlich als der Ahnvater der Priesterschaft von Bethel. Für diese häufig vertretene These sprechen drei Beobachtungen: 1) Das → Goldene Kalb stellt eine Verbindung zwischen Aaron und Bethel her. Es stand nach 1Kön 12,29 in Bethel, und sein Prototyp ist nach Ex 32,1-6 von Aaron angefertigt worden. 2) Ri 20,27-28 lokalisiert die Aaroniden in Bethel. Die späte Notiz dürfte sachlich richtig sein, weil sie im Kontext bedeutungslos und deswegen unverdächtig ist. 3) Die beiden ältesten Söhne Aarons tragen fast die gleichen Namen wie die beiden Söhne Jerobeams, des obersten Dienstherrn von Bethel, nämlich Nadab und Abia bzw. Abihu.
Die Priester von Bethel waren also Aaroniden und galten nicht als Leviten (vgl. Ex 32,25-29; 1Kön 12,31). Was nach der assyrischen Eroberung bzw. der Beseitigung des Betheler Kultes aus ihnen wurde, wissen wir nicht.
3.2. Die Priesterschaft Israels in exilisch-nachexilischer Zeit
Das Deuteronomium kennt kein aaronidisches Priestertum. Aaron erscheint – außer in der Todesnotiz Dtn 10,6 (vgl. Dtn 32,50) –
nur negativ als der Erbauer des Goldenen Kalbs, den Gott in seinem Zorn fast getötet hätte (Dtn 9,20). Mit dem
Betheler Kult, der als Inbegriff der Sünde gilt, wird Aaron als Ahnherr der dortigen Priesterschaft negativ gesehen. Auch in Josua bis 2. Könige (→ Deuteronomistisches Geschichtswerk) ist – außer in Jos 21 bei der Zuweisung der Asyl- und Levitenstädte – von Aaron nie als Priester die Rede. Er erscheint nur an wenigen Stellen, und zwar als Vater Eleasars (Jos 24,33; Ri 20,28) und in Rückblicken auf die Befreiung Israels aus Ägypten (Jos 24,5; 1Sam 12,6.8). Auf diese bezieht sich auch Aarons einzige Erwähnung in den Prophetenbüchern (Mi 6,4).
Im Ezechielbuch, das auf einen Propheten zurückgeht, der selbst Priester war, ist von Aaron nie die Rede; vielmehr gelten die Zadokiden, die während der Königszeit das Jerusalemer Priestertum stellten, aber ins Exil verschleppt worden waren, als das einzig legitime Priestergeschlecht (Ez 44,15-31; → Zadok), das deswegen als Trägerkreis des Ezechielbuchs anzusehen ist. Dieses Priestergeschlecht war eng mit dem Königtum des Südreichs verflochten und stand dem Betheler Staatskult des Nordreichs distanziert gegenüber.
Ein ganz anderes Bild zeigt in exilisch-nachexilischer Zeit die Priesterschrift – die Grundschicht und ausführlich die Ergänzungsschicht (→ Priesterschrift). Sie betrachtet Aaron, den sie zu einem Leviten macht (Ex 6,16-20), – vielleicht in Aufnahme entsprechender Vorstellungen aus Bethel – als ersten Priester Israels und damit als Ahnvater aller Priester.
Dabei hat sie sicher die Jerusalemer Priesterschaft der nachexilischen Zeit im Blick. Die Aaroniden gelten ihr damit als das einzig legitime Priestergeschlecht, so dass nur Söhne Aarons Priester sein können. Die (nicht-aaronidischen) Leviten dürfen nur als Diener fungieren (Num 3,5-10).
Für den Aufstieg Aarons war vielleicht ausschlaggebend, dass die Priesterschrift ihren Entwurf vom Sinai her konzipiert.
Das machte es ihr unmöglich, Zadok, den traditionellen Ahnvater der Jerusalemer Priesterschaft, der erst zur Zeit Davids amtierte, zum Ahnvater aller Priester zu machen. Der Verfasser musste auf einen anderen priesterlichen Ahnvater zurückgreifen, und da legte es sich nahe, die Aaron-Überlieferung, die bereits mit der Sinai-Tradition verbunden war, aufzunehmen und Aaron zum Ahnvater der Jerusalemer Priesterschaft werden zu lassen (vgl. Gunneweg, 1965, 145). Möglich ist jedoch auch, dass sich in der neuen Bedeutung Aarons realpolitische Verhältnisse spiegeln. Nachdem die Zadokiden nach Babylon deportiert worden waren, mögen die Aaroniden ihren Einfluss nach Juda ausgeweitet und in Jerusalem an ihre Stelle getreten sein (vgl. Schaper, 2000, 168-174.269-279).
Die
Chronikbücher führen die Gedanken der Priesterschrift weiter.
Aaron und seine Söhne werden auch hier als die einzig legitimen Priester angesehen (1Chr 6,34; 1Chr 23,13), und außer ihnen darf niemand, nicht einmal der König, Jahwe Räucheropfer darbringen (2Chr 26,16-21). Die Leviten werden wie in der Priesterschrift als Diener der aaronidischen Priester betrachtet (1Chr 23,27-32).
Der
Konflikt, zu dem es nach der Rückkehr der Zadokiden aus dem Exil mit den inzwischen etablierten Aaroniden gekommen sein dürfte, wird in den → Chronikbüchern durch eine genealogische Verbindung der Geschlechter gelöst.
Zadok wird im Stammbaum Levis zu einem Nachfahren Aarons gemacht (1Chr 5,27-34; 1Chr 6,35-38; vgl. 1Chr 24,3). Die Zadokiden mögen an dieser Verbindung Interesse gehabt haben, weil sie so in der inzwischen als normativ geltenden Heilszeit Israels verankert und damit legitimiert wurden (vgl. Albertz, 1992, 224). Die Verbindung findet sich auch im Stammbaum → Esras, der über Zadok auf Aaron zurückgeht (Esr 7,1-5).
Im 2. Jh. v. Chr. findet das zadokidische Priestertum mit dem Untergang der → Oniaden ein Ende. Jedoch führte sich das hasmonäische Priestertum der → Makkabäer genealogisch auf den Eiferer Pinhas, einen Enkel Aarons, und damit implizit auf Aaron zurück (1Makk 2,54).
Jesus Sirach bietet in seinem Lob der Väter – in Auseinandersetzung mit priesterkritischer, prolevitischer Literatur der Zeit (vgl. Fabry, 214) – einen überschwänglichen Lobpreis Aarons. Aaron war es, mit dem Gott einen ewigen Bund geschlossen und dem er die Gebote gegeben hat (Sir 45,6-22 [Lutherbibel: Sir 45,7-27]; → Jesus Sirach). Die Priester, die nach Sir 7,29-31 (Lutherbibel: Sir 7,31-33) zu ehren sind, bezeichnet Sirach als Söhne Aarons (Sir 50,13.16 [Lutherbibel: Sir 50,15.18]).