Zitat von
Ghaldak
Kapitel 7
Archie fehlte nichts.
In einer gründlichen Untersuchung konnten Tarrin und Srrt’vai keine Verletzungen oder Spuren eines Gifts feststellen. Auch für eine Krankheit gab es keine Anzeichen, zumindest hatte sie kein Fieber. So wie es aussah, schlief sie nur tief und fest, doch alle von Tarrins Weckversuchen blieben erfolglos. Niemand beachtete Samus. Niemand bekam mit, wie sie sich den Laptop nahm und daran zu arbeiten begann. Sie tippte und las – mehr nicht.
„Was tust du da?“, fragte schließlich die erschöpfte Srrt’vai, doch Samus antwortete nicht. Sie begann, etwas vorzulesen.
„Und als die Götter die Erdscheibe zimmerten, war da Feychoris und sie sah ihnen zu – sie war die jüngste von ihnen und da sie auch die schwächste war, fand sie auf der Welt keinen Platz für ihr Werk. Da ging sie zu ihrem Bruder Kheldator, der gerade die Meere füllte, doch dieser hatte keine Verwendung für sie und schickte sie fort.
Da ging sie zu ihrer Schwester Galratha, doch diese formte gerade die Steine und hatte keine Geduld. Sie stach ihr die Augen aus.
So wankte sie zu ihrer Schwester Narazul, die selbst keine Verwendung hatte, und flehte bei ihr um Hilfe, sie aber nahm eine Klinge und hieb Feychoris in Stücke. Zufrieden sah sie, was sie getan hatte, doch um nicht gestraft zu werden, packte sie den Leib und schleuderte ihn so weit fort, dass er die Himmelsglocke traf und an ihr kleben blieb. So entstanden die Sterne und die Sonne.“
Mit dem letzten Wort fiel das Schweigen drückend auf die Gruppe. „Das ist aus der Weltenchronik des Rolaton von Serall.“, erklärte Samus schließlich, „Sie entstand um 1400. Was meinst du, Srrt’vai? Ist es wahr?“
Das Katzenmädchen überlegte. „Ich kenne eine ganz andere Geschichte.“, antwortete sie dann und erzählte: „Feychoris ist der Beginn und sie ist das Ende. In meinem Stamm erzählt man sich, wie die Götter die Welt gemeinsam schufen – es war ein Spiel für sie und ein spontaner Einfall, der Abwechslung versprach. Sie übertrafen sich gegenseitig mit tollen Dingen – alle außer Feychoris.
Sie stand abseits, da sie das Spiel ihrer Schwestern nicht interessierte, spürte sie doch zu sehr den leeren Schaffensdrang ohne Liebe für das Werk. Erst als sich diese erschöpften, betrat sie doch die Welt und wanderte allein durch das Land. Da es ihr gefiel, nutzte sie einen Teil ihrer Kraft, um die Welt zu vollenden, und heftete funkelnde Edelsteine an die Decke.“ Srrt’vai deutete einen Blick nach oben an und lächelte. „Doch die Geschichte geht noch weiter, schlug sie doch an diesem Ort ihre Zelte auf. Land und See gefielen ihr so sehr, dass sie dort mehrere Jahrhunderte verbrachte, ohne von ihren Schwestern gestört zu werden und ohne diese zu vermissen. Sie merkte gar nicht, wie einsam sie war, bis sie eines Tages Besuch bekam…“ – „Moment bitte, Srrt’vai, eine Frage: Du erzählst die Geschichte sehr sicher. Hast du sie auswendig gelernt?“
Der Einwurf störte das Katzenmädchen nicht im Geringsten und sie nickte. „Das erkläre ich dir später.“, sagte sie und fuhr fort.
„Der Fremde gehörte zu den lieblos erstellten Kreaturen ihrer Schwestern, ein Zauberer und Edelmann mit Namen Kheldator, doch da er ungehorsam war, floh er an Ende der Welt. Feychoris bot ihm Unterschlupf und verliebte sich. Einhundert Jahre lang ging alles gut und aus der Begegnung entstanden die Vai, die schon bald Leben in diesen Teil des Landes brachten. Dann jedoch erschienen die Götter und da Feychoris wusste, dass sie sich nicht allen in den Weg stellen konnte, erbaute sie ein Schiff und ermöglichte Kheldator damit eine Flucht über die Meere. Und er ging.
Viele Jahre lebte Feychoris bei den Vai, doch immer mehr verzehrte sie die Sehnsucht nach ihrem Geliebten. Schließlich verwandelte sie sich in die Sonnenscheibe, um von oben nach ihm zu suchen, und als Kheldator das sah, wurde er zum Mond. So wanderte er mit ihr über die Himmelsglocke, fern dem Zugriff der Götter, und in manchen Nächten können sie sich wieder sehen.“
Wieder ging eine Geschichte zu Ende. „Seltsam“, murmelte Samus, mehr zu sich selbst als zu Srrt’vai, „Das ist die erste Geschichte, in der Kheldator nicht als Gott dargestellt wird. Wem ist denn bei euch das Meer zugeordnet?“ – „Einem Gott namens Gnos. Ich weiß nicht, ob ihr ihn auch kennt. Ich glaube aber…“ Das Katzenmädchen lachte. „… das sollte man nicht so ernst nehmen. Die Geschichte wird hässlich mit Bruder und Schwester.“ – „Du kennst dich aber ziemlich gut aus. Woher kommt das?“
„Ich bin eine ausgebildete Romaiko, wenn dir das etwas sagt… gut, dann erzähle ich die ganze Geschichte.
Ich stamme aus Nemaparth, das ist eine der Pflanzsiedlungen am Rande des Rattenwaldes, angelegt von eurer Königin für jene von uns, die es zur Zivilisation zieht. Wir sind da recht selbständig und konnten einige unserer Bräuche bewahren, so die Romaiko. Ich denke, man kann es am Besten mit ‚Zaubermeister’ übersetzen.“ – „Du kannst zaubern, Vai?“ – „Nein, aber ich kann Zeremonien durchführen, Wunden versorgen, Kinder entbinden und mehr als eine alte Sprache sprechen. Ich glaube, du kannst erahnen, wie unsere Zauberei funktioniert.“ Samus nickte. „Profanes Wissen und großes Getue.“ – „Heute weiß das natürlich jeder, trotzdem gibt es immer noch Romaikos. Es ist eine schöne Tradition und hat sich eben bewährt.“ – „Und handhaben das alle eure Stämme so?“ – „Nicht genau, aber ähnlich. Die meisten Parthe… Stämme oder Stammessiedlungen… besitzen Romaikos, doch deren Aufgaben und Stellungen unterscheiden sich – manchmal Fürsten, manchmal Künstler, du verstehst?“
„Ja, ich denke schon.“ Samus blickte das Katzenmädchen lange ernst an, ehe sie fragte: „Weswegen hast du deinen Stamm verlassen?“ – „Wegen Tarrin, warum sonst? Sein Vater, der bei einer der Firmen arbeitet, der wir unsere Hölzer verkaufen – NBFG –, erzählte mir von seinem Sohn auf einem Vorzeit-Trip und fragte mich, ob ich ihm nicht etwas Kultisches überlassen konnte, was er ihm zum Geburtstag schenken könne? Da sagte ich nur: „Habe ich – und ich komme mit.““
Der fassungslose Blick der Schülerin belustigte Srrt’Vai sehr. „Am Ende sprang ich in bestem Zeremoniengewand aus einer Torte und legte Tarrin eine Kette mit Schutzamuletten um. So habe ich ihn kennen gelernt.“
Samus wusste nicht, was sie sagen sollte. „Aber du als Priesterin, mit deiner Würde…“
„Ich bin keine Priesterin, sondern eine Romaiko, und außerdem wollte ich mir eure Stadt ansehen. Das schien mir ein guter Weg zu sein.“ – „Das ist verrückt und leichtsinnig. Was da alles hätte passieren können…“ – „Es ist eine Menge passiert, Samus, wären wir sonst hier?“
Kapitel 8
Ihr Name lautete Kildrae und sie war eine Vai. Das Bild des schlafenden Mädchens, ihre Stimme und ihre Gedanken, verblassten langsam aus Archies Bewusstsein, als die Welt um sie herum wieder klarer wurde. Was war passiert? Hatte sie geträumt? Nein, kein Traum, stellte sie fest, es fühlte sich ganz anders an. Es war, als wäre sie in dem Moment diese schlafende Katze gewesen. Seltsam.
Noch seltsamer erschien die Frage, wo sie sich nun befand. Um sie herum wirbelte ein Chaos aus einzelnen Farben, das nicht zu enden schien, bis eine Stimme es durchbrach. „Du hast mich gerufen?“ Sie klang weiblich und ohne jedes Gefühl.
Ein zweites Mal folgte die Botschaft, doch diesmal langsamer. Archie entschloss sich, zu antworten. „Hallo? Bist du Feychoris?“ – „Ich bin… ja… nein…. Suchst du Feychoris?“
Für Archie war das eine gute Frage. Suchte sie die Göttin? Irgendwie schon, aber andererseits auch nicht. Sie spürte jedoch, dass sie eine Entscheidung treffen musste. „Ja“, rief sie schließlich, „Bringe mich bitte zu ihr.“
Von der Stimme fehlte jedes Zeichen und Archie zweifelte schon an ihrer Antwort, als sich ganz plötzlich die Realität wandelte.
Takea von Archilby, die Nhordai, wurde sich ihrer Person sehr bewusst, als die Erinnerungen zurückkehrten. Sie spürte sich im Gras liegend, hielt die Augen geschlossen und genoss die Sonne. Sie konnte den Wind des nahen Meeres spüren, doch dessen Rauschen ging unter im Lärm des Tempelbaus. Steine scharrten, Tausende Arbeiter sprachen, dann dieses Geräusch, dann das – eine Symphonie –, und Archie wunderte sich, warum sich dies alles so vertraut anhörte. Sie wollte schon nachsehen, als sie einen Schatten auf sich spürte und sie eine Stimme grüßte: „Es ist schön, noch Besuch zu bekommen.“
Archie richtete sich auf und sah, als sie die Augen öffnete, eine Frau neben sich im Schneidersitz auf dem Gras sitzen. „Feychoris?“, entkam es ihr, worauf die Frau nickte. „Faichoa, die Sonne, das Licht… was immer du in mir sehen möchtest. Bist du eine Tote?“ – „Ich? Nein.“, antwortete Archie verdutzt, „Ich war es jedenfalls nicht, bevor…“ Die Göttin lachte. „Deinem Körper geht es gut. Dein Liebster kümmert sich rührend um dich.“ – „Tarrin? Keine Chance. Wir sind nur gute Freunde.“ – „Schade.“
Diese Antwort kam verwirrend. „Wende dich da besser an Samus.“, hörte sie sich haspeln, „Von der war er schon die ganze Reise lang nicht zu trennen. Würde mich wundern, wenn sie danach noch ein Wort mit ihm wechseln würde.“
Feychoris fragte: „Ist sie eine Weißthron?“ – „Was?“ – „Schon gut. Ich kenne diese Art. Es hat schon seinen Grund, warum ich dich zu mir bat und nicht sie, obgleich ihr Blut etwas heller strahlt.“
Archie verstand gar nichts mehr. „Wie lange bist du schon hier allein?“, fragte sie dann. „Seit dem Ende meines Volkes. Am Ende war es eine Qual, denn es wurde so ernst und der Tempel so kalt. Deshalb bin ich froh, dass ihr hier seid, Archie. Endlich einmal passiert etwas.“
Kapitel 9
„Weiß du, Vai?“, begann Samus langsam, während sie das Katzenmädchen musterte, „dass ich dich bisher immer ganz anders einschätzte? Dich aus der Torte springen zu sehen… nein. Das hätte ich nicht gedacht.“ Sie versuchte, ihre Enttäuschung möglichst aus ihrer Stimme herauszuhalten. Auch Srrt’vai wurde ernst. „Es ist nichts weiter passiert, wenn du das denkst. Das wäre auch herzlich dumm von mir gewesen.“
Archie schwieg, was für Srrt’vai hieß, dass sie nicht verstand. „Du kennst eure Gesetze? Jegliche Verbindung zwischen den Rassen wird bei Todesstrafe verboten… das heißt, für mich, Tarrin hätte es genießen können. Glaube mir, wir wissen das sehr genau.“
Samus’ Blick klärte sich nicht wirklich auf. „Davon wusste ich in der Tat nichts. Denkst du, das ist ernst gemeint?“ Srrt’vai schwieg und gab damit die Antwort.
„Himmel“, sagte Samus und sprang auf, „Hättest du dir die Stadt nicht anders ansehen können?“ – „Es war so einfach am Sichersten.“ Das verstand Samus nicht und so musste Srrt’vai länger ausholen: „Ich bin keine Nhordai und außerhalb des talesnischen Gürtels vollkommen rechtlos. Du könntest mir mitten im Sonnenpark von Nezrath den Bauch aufschlitzen und könntest einfach davonschlendern, während ich auf dem Asphalt verbluten würde, da man mir auch medizinisch nicht helfen darf. Nezrath ist da knallhart.“
Samus schluckte. „Ist es wirklich so schlimm? Ich hätte nicht gedacht…“ – „Du verstehst, warum ich da über jede Begleitung dankbar war?“ Samus nickte. „Das schon, aber… wenn es wirklich so schlimm ist, warum wolltest du dann in die Stadt?“
Das Katzenmädchen lächelte. „Ich wollte sehen, wie Sieger leben.“
Kapitel 10
Es lag an Tarrin, auf Archie Acht zu geben, so gut er konnte. Viel stand nicht in seiner Macht, verstand er doch nicht, warum dieses Mädchen, dem nichts zu fehlen schien, nicht auf einmal aufwachte. Es ließ ihm keine Ruhe. Hatte er etwas übersehen? Er hatte doch alles versucht. Sollte er sie vielleicht einfach mal küssen, so wie im Märchen? Das wäre doch…
Zu seiner Schande musste sich Tarrin eingestehen, dass er den Gedanken verlockend fand. Sie war so schön, ihm im Moment so nah und Vai und Samus achteten nicht auf ihn. Sie redeten über irgendwas und er hörte ihnen nicht zu.
So nah. Behutsam fuhr er mit einem Finger durch ihr blondes, fast goldfarbenes Haar, während ihm Bilder in den Kopf kamen, von Archie, wie sie redete, lachte oder einfach nur da war. Nach zwei Wochen anstrengender Wanderung war sie jedoch schmutzig, bar jeder Kosmetik und ohne die Art von Kleidung, die sie sonst zu tragen pflegte, die ihre Figur und ihr fröhliches Naturell betonte. Er sah sie weiter an, bemerkte eine kleine Wunde über ihrer linken Braue, die sie wohl einem zurückschlagenden Ast verdankte, er blickte auf ihre Hände, auf ihre verschmutzten Finger… es war seltsam, die Wanderung hatte an ihnen allen ihre Spuren hinterlassen, doch an Archie störte es ihn nicht. Würde sie nun die Augen öffnen und ihm zulächeln, er würde…
… nichts. „Hey, Tarrin“, hörte er in dem Moment Srrt’vai rufen, „Andi hat ein Wandbild gefunden. Kommst du mit oder bleibst du hier bei ihr?“ Er musste kurz überlegen. „Ich möchte sie nicht alleine lassen.“, sagte er dann, „Ihr kommt schon ohne mich klar.“ – „Wenn der Meister das meint. Dann bis später.“
Auf einmal wurde es um sie gespenstisch still, als nur noch Archie bei ihm lag. Seine Gedanken jedoch kamen nicht zurück und er konnte in diesem Mädchen nichts anderes mehr sehen als eine Reisebegleiterin, die gerade seiner Wacht bedurfte.
„Deine Gefährten“, sagte Feychoris plötzlich, „haben etwas gefunden, was sie in Aufregung versetzt. Interessiert dich das?“ – „Natürlich, was für eine Frage.“ Archie sah die Göttin fragend an. „Was haben sie denn entdeckt? Etwas Gefährliches?“ – „Nein, nur ein paar Listen. Aus der Zeit, als dieser Tempel noch lebte.“
Archie wusste nicht, was sie sagen sollte. Die Göttin wirkte plötzlich so abwesend und sie hatte das Gefühl, das könnte nicht gut sein. So griff sie nach dem einzigen Faden, der ihr gerade in die Finger fiel: „Mit Kildrae?“
„Ja, zufälligerweise. Es ist nur so lange her. Ich könnte dir von ihr erzählen. Ja, das würde ich gerne tun.“