Kapitel 315 Speerspitze nach oben
Wes-il-des-mar (Wind in seinem Haar) lag auf dem Bauch und blickte vorsichtig über den Hügelkamm. Er hob langsam sein Haupt, um die Tiere, die in der Senke standen, nicht aufzuschrecken. Grasende Steppenschafe. Eine ganze Herde. Er schätzte ihre Anzahl über auf über einhundert. Eine fette Beute, wenn sie es schaffen sollten, die Schafe zu überraschen. Darauf kam es an. Wenn die Schafe erst einmal ins Laufen kamen, wurde es schwer werden Beute zu machen.
In Gedanken ging er rasch ihre Möglichkeiten durch. Wes-il-des-mar war ein erfahrener Jäger und wusste um die Tücken bei einer Jagd. So viel hing vom richtigen Zeitpunkt und vom Überraschungsmoment ab. Zumindest der Wind stand günstig und verriet den Schafen nicht die Anwesenheit der wartenden Jäger. Sie hatten die Tiere gerochen, bevor sie sie sahen.
Wie sollten sie vorgehen? Schnell und direkt oder mit zwei Gruppen aus zwei verschiedenen Richtungen. Für ein direktes Vorgehen sprach die Windrichtung, von den Schafen weg, und dass die Tiere in einer Senke standen. Sie hatten nur zwei schmale Fluchtkorridore zwischen den Hügeln hindurch und den gegenüberliegenden Hang, wo es für die Tiere fast unmöglich war schnell zu fliehen. Für den Angriff aus zwei Richtungen sprach ebenfalls die Hanglage und die Fluchtkorridore. Hätte er mehr Jäger dabei gehabt, hätte er am liebsten drei Gruppen gebildet. Aber sie waren zu wenige. Sie hatten nur einen Versuch. Danach würden die Tiere den halben Tag davonlaufen und sie würden sich immer weiter vom Rastplatz entfernen.
Er blickte vorsichtig zu den Zwillingen am Himmelsgewölbe. Der Tag ging und bald würde es Nacht werden. Es blieb nicht mehr viel Zeit. Oder sollten wir die Jagd auf den nächsten Tag verschieben, um mehr Zeit zu haben? Was war die richtige Entscheidung? Selbst wenn die Jagd erfolgreich verlaufen sollte, würden sie es heute nicht mehr zum Rastplatz schaffen. Unter freiem Himmel übernachten. Das waren sie gewohnt aber man sollte lieber im Schutze der Bäume nächtigen und nicht mitten auf freiem Feld. Es lauerten einfach zu viele Gefahren in der Nacht. Sie waren auf ihrer Wanderschaft an einer kleinen Gruppe von Bäumen vorbei gekommen. Ein viertel Tag vielleicht. Höchstens. Eher weniger.
Bei den Bäumen die Nacht verbringen, sich richtig ausschlafen und beim ersten Tageslicht der Zwillinge losmarschieren. Das setzte aber voraus, dass die Beute am nächsten Tag noch hier war. Eine schwierige Entscheidung, die er alleine treffen musste. Er war der Jagdführer. Er ging alle Möglichkeiten durch und schaute erneut vorsichtig über den Hügelkamm in die Senke. Die Beute war so verlockend nah. Aber was bringt die Beute, wenn nachts die Wölfe kamen und ihnen alles streitig machten? Es gab nichts Schlimmeres als sich nachts gegen Wölfe zu verteidigen.
Wind-in-seinem-Haar duckte sich und kroch langsam rückwärts, ohne verräterische Geräusche zu machen, den Hang hinunter zu seinen wartenden Gefährten. Erst am Ende des Hügels richtete er sich wieder auf und sah in die erwartungsvollen Gesichter der Anderen. Sie wagten es nicht zu fragen. Sie würden gegen den Kodex handeln. Der Jagdführer traf die Entscheidungen und sie mussten ihm vertrauen und seine Anweisungen hinnehmen. Er blieb vor ihnen stehen und schwieg. Er schaute lange in ihre Gesichter, die er schon so lange kannte.
„Wir kommen morgen wieder, es ist zu spät.“, flüsterte er zu ihnen. Er sah die sofortige Enttäuschung in ihren Gesichtern, besonders bei den Jüngeren. Manche schauten weg oder versuchten sich nichts anmerken zu lassen. Die Jüngsten verzogen ihre Gesichter und machten aus ihrer Ablehnung keinen Hehl.
Dann erhob Bolan-shan (Blutige-Hand) das Haupt und blickte Wind-in-seinem-Haar direkt an. Er hielt seinen Speer mit beiden Händen aufrecht mit der Spitze nach oben. Ein Warnzeichen. Normalerweise waren die Spitzen zum Boden gerichtet. Eine Provokation. „Zu spät?“, fragte Blutige-Hand mit leiser Stimme plötzlich. Manche Jäger zogen hörbar die Luft ein. Anderen blieb beinahe das Herz stehen. Was für ein Affront! Niemand hinterfragte die Entscheidung des Führers. Schon gar nicht vor allen Jägern.
Wind-in-seinem-Haar war nicht wirklich überrascht. Blutige-Hand war schon immer ein Draufgänger und hielt sich für den besten Jäger und Spurensucher des Volkes. Jeder wusste, dass er grenzenlosen Ehrgeiz besaß und selber Jägerführer werden wollte. Das Können dazu hatte er, dass sprach ihm niemand ab. Nur benötigt man mehr, um eine Gruppe von Jägern zu führen als nur gute Jagdkenntnisse. Und da wusste jeder, dass Wind-in-seinem-Haar die beste Wahl war.
Wind-in-seinem-Haar schaute Blutige-Hand grimmig an. Er ging in seinem Kopf seine Möglichkeiten durch. Seine Augen verengten sich zu kleinen Schlitzen. Seine Armmuskeln spannten sich kaum merklich. Blutige-Hand war ein erfahrender Krieger und Jäger. Er sah es bestimmt und zog daraus seine Schlüsse. Zwei Jäger standen sich gegenüber und fixierten sich.
Wie soll ich darauf reagieren?, dachte Wind-in-seinem-Haar. Soll ich es auf einen Kampf ankommen lassen? Würde er zum Äußersten gehen? Er heißt nicht ohne Grund Blutige-Hand. Sollte ich es ignorieren und nichts unternehmen? Was würden die anderen darüber denken? Stärke oder Schwäche? Was, wenn wir beide im Kampf verletzt werden? Wer führt dann die Gruppe? Wer sorgt für Beute und Nahrung? Das Volk wartet.
Demonstrativ drehte Wind-in-seinem-Haar seinen Speer mit der Steinspitze, so dass sie ebenfalls nach oben zeigte. Er schaute sie direkt an. Einige Momente. Blutige-hand würde das Zeichen verstehen. Dann sah Wind-in-seinem-Haar von der Speerspitze zu seinem Gegenüber und lächelte. Es war kein freundliches Lächeln, wie unter Freunden oder Brüdern, sondern ein kaltes, herzloses Lächeln, was man einem Gegner oder Feind schenkte kurz bevor der Kampf begann. Das sollte Blutige-Hand ebenfalls verstehen. Dieser lächelte kurz zurück. Aber seine Selbstsicherheit, die er zu Beginn zeigte, fing an zu bröckeln. Sein Blick verriet ihn.Er begann zu grübeln und schätzte seine Chancen ein.
Wind-in-seinem-Haar hatte darauf gewartet und löste seinen Blick und ging mit stolzen und bedächtigen Schritten vorbei. Seinen Speer hielt er kampfbereit und konzentrierte sich mit seinen Sinnen auf das Geschehen hinter ihm. Er vernahm die ersten Schritte seiner Jäger, die ihm folgten. Es gab keinen Angriff aus dem Hinterhalt. Es wäre unehrenhaft einen Gegner von hinten zu attackieren, doch man sollte immer auf der Hut sein. Wind-in-seinem-Haar entspannte sich ein wenig und ging Richtung Baumgruppe, die sie vor zwei Stunden passierten hatten. Dort würden sie die Nacht verbringen und neue Kräfte sammeln. Dann würden sie auf die Jagd gehen. Das Volk wartete und sie würden jeden Krieger und jeden Speer benötigen, um genug Nahrung zu erbeuten, damit das Volk überlebte.
Blutige-Hand ging als letzter in der Reihe der Jäger. Er hatte seinen Speer erneut umgedreht, die Spitze zeigte nun nach unten. Es war nicht der richtige Zeitpunkt, um den Jagdführer herauszufordern. Wind-in-seinem-Haar war ein geschickter Krieger und ein guter Jagdführer aber er war immer so zögerlich und abwartend. Das machte Blutige-Hand rasend vor Wut. Er verstand nicht, warum sie nicht sofort angriffen. Das Volk benötigt Nahrung zum Überleben und hinter dem verdammten Hügel wartete eine ganze Herde von Steppenschafen. Wenn sie es schafften die Schafe zu überraschen, dann wäre der Erfolg gesichert. Nun zogen sie langsam und ruhig davon und verloren Zeit. Blutige-Hand verstand es nicht. Und weil er es nicht verstand wurde er wütend. Aber er konnte seine aufsteigende Wut noch in Zaum halten. Doch für wie lange noch?
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Nicht wundern, der Name "Wind-in-seinem-Haar" stammt aus dem Film "Der mit dem Wolf tanzt" Ich habe den Namen aufgegriffen, weil er so schön "klingt". Die meisten Namen habe ich mir aber selber überlegt. Die, die noch kommen werden...![]()


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