Kapitel 155 – Gottesurteil V
Die Dunkelheit hatte sich noch nicht über die feuchte Erde des Flodden Hill gesenkt, als die Rosanen eine neue Welle auf die Reihe der Kelten entfesselten. Dieses Mal schienen sie wirklich alle ihre Reserven in die Schlacht zu werfen, die Menge der Gestalten, die sich in der Dämmerung näherte, wirkte wie ein Meer aus Körpern.
Frederick und seine Männer hatten sich auf dem Versorgungsweg zwischen den Schützengräben abgehockt und sich so dicht wie möglich an den Boden gekauert. Alle ihre Banner, die Steinerfaust, Brennus' goldene Triskele auf grünem Grund und das Feldzeichen der Befehlskompanie wurden flach gehalten. Jeder Kelte hatte sein Gewehr geladen und die Befehle des Hauptmanns befolgt. Über dreihundert scharfe Klingen warteten darauf, in die Reihe der anstürmenden Rosanen zu schneiden.
Mit den Geschützbatterien hatte Frederick eine Taktik besprochen. Über die letzten Tage war die Keltengarde dazu über gegangen, nicht in die ersten Reihen der Rosanen zu feuern, sondern über die Köpfe der ersten Angreifer hinweg. Dadurch riss die Artillerie eine Lücke in den Strom der anrückenden Kämpfer und erlaubte es den Kelten, kleinere Gruppen der Rosanen zu eliminieren, bevor der nächste Strom sie erreichte. Inzwischen waren die Geschützbesatzungen sogar so präzise darin geworden, dass sie diesen Zielbeschuss nur weniger Dutzend Meter vor den eigenen Reihen einsetzen konnten. Ohne die eigenen Leute zu treffen, was unglücklicherweise einige Male passiert war. Wenn Frederick das Zeichen zum Angriff gab, würden alle Kanonen in die Mitte des Gefechtsfeldes feuern und der Befehlskompanie so viel Platz wie möglich schaffen. Auch die Schützen in den Gräben hatten diese Befehle erhalten.
Aus den vorderen Stellungen waren Kampfgeräusche zu hören. Dort hielten sich nur noch wenige Dutzend Kelten. Sie sollten die Rosanen stören, wenn möglich Offiziere erschießen und sich zurückziehen, sobald sie an Boden verloren. Das geschah Fredericks Meinung nach leider allzu schnell.
Pistolen und Musketen schickten Feuerstöße in die Dämmerung, doch es waren nur so wenige, verdammt wenige, die den unteren Ring des Flodden Hill verteidigten. Den Fuß des Hügels hatten sie bereits verloren, doch jetzt sollte sich dies ändern – auch wenn es nicht so aussah. Rosane kletterten über verlassene Schützengräben, nur hier und da verlangsamt von einer eilig in den Boden gerammten Speerspitze oder einer vereinzelten Kugel. Ihre Reihen waren fast überall gleich auf, eine wogende Masse von Körpern, von Zorn und drohendem Tod.
Frederick zählte zehn Sekunden ab und stieß ein Mal scharf in sein verbeultes Signalhorn. Ein einzelner klagender Ton war das Signal für die Artillerie. Die Rohre waren bereits geladen und gerichtet worden und die Kanoniere brauchten nur noch die Teerfackeln an die Zündungen legen. Nur Sekunden vergangen, bis das Schießpulver brannte, heiß wurde, heiß genug um sich auszudehnen, um die Kanonenkugeln vor sich her zu treiben und Donner auf den Flodden Hill hinab zu rufen. Glühendes Metall schoss auf Feuerzungen in die Freiheit, durchschnitt pfeifend und singend die feuchtkalte Luft und schlug erbarmungslos in die vorrückenden Reihen der Rosanen ein.
Dort, wo die Kugeln ihr Ziel trafen, rissen sie Körper auseinander, gruben Krater in den aufgewühlten Boden und warfen Erd- und Steinbrocken in die Höhe. Diese Brocken flogen weiter, nicht immer tödlich, aber mit ungeheurer Flächenwirkung. Selbst wer nur von ein paar Kieseln und Erde getroffen wurde, warf sich umgehend zu Boden. Dadurch stockte die gesamte Bewegung der bisher in gleichem Tempo vorrückenden Masse. Rosane stolperten, fielen über ihre Gefährten. Es bildeten sich Lücken, wie klaffende Münder im Menschenmeer.
Die vorderen Reihen drängten weiter vorwärts, jagten die Kelten, die nun den Hügel hinauf hasteten und nur stehen blieben, um noch eine Kugel mehr auf die Rosanen abzufeuern, sie noch weiter zu reizen.
Mehr als er sie zählte, fühlte Frederick, dass es genug waren, die sich vom Tross getrennt hatten. Achthundert oder tausend Mann vielleicht, die sich auf der ganzen Breite der Front vorwärts bewegten. Sie waren dem ersten, aufgegebenen Schützengraben entstiegen und drängten stetig vorwärts. Mit einem Zähneknirschen richtete Frederick sich über die kauernden Krieger seiner Befehlskompanie auf und sah auf die Rosanen hinab, als würden sie alle nur auf ihn zuhalten, als würde er alleine diesem Alptraum entgegen treten müssen.
In einer flüssigen Bewegung führte er das Signalhorn zu den Lippen und sog Luft in seine Lungen. Die zweite Salve aus den Kanonen der Keltengarde zerstörte die Formation der Rosanen noch weiter. Das war der Moment.
Das Horn erklang, rief nach dem Zorn der Kelten. Rings um ihn herum sprangen Krieger in die Höhe, als habe er die Toten aus der Erde befohlen. Banner wurden in den Himmel gereckt, Waffen gezogen, Stiefel gruben sich in den weichen Boden des Flodden Hill und die Befehlskompanie warf sich vorwärts. Frederick, weit vorne in der Reihe, wurde mitgerissen vom Sturmlauf seiner Männer und schalt sich einen Narren, dass er so einen Angriff befehlen konnte. Vor ihnen ragte eine Wand, eine Mauer aus Gegnern auf, drei oder vier für jeden Seiner Männer. Während er den Flodden Hill hinab eilte, wischte er den Gedanken bei Seite. Er hatte lange genug mit sich selbst gerungen.
Natürlich rannten sie gegen eine Wand an.
Die Wand war breit. Sie zog sich über die gesamte Frontlinie.
Doch die Befehlskompanie griff nicht überall an – nur auf dem vielleicht sieben oder acht Meter breiten Versorgungsweg, der festen Tritt bot. Auf dem nur vier Männer in enger Formation nebeneinander laufen konnten.
Es funktionierte wie ein Rammbock.
Kaum waren die Rosanen in Nahkampfreichweite, feuerten die ersten beiden Reihen Keltengardisten ihre Gewehre ab. Auch wenn vielleicht ein oder zwei Dutzend Mann vor ihnen gestanden hatten, brachen sie durch diese dünne Linie, warfen die Rosanen einfach um oder trampelten sie nieder. Auf diesen wenigen Metern hatten die Kelten eine zahlenmäßige Überlegenheit geschaffen, die nicht aufzuhalten war.
Doch das war nur der einfache Teil.
„Ausschwärmen! Ausschwärmen“, bellte Frederick und starrte auf den Moloch der Rosanen Hauptlinie, der nur wenige Dutzend Meter vor ihm den Hügel erklomm. Alle seine Instinkte brüllten ihn an, Stellung zu beziehen und dem Feind die Hölle zu bereiten, aber er musste sich an seinen eigenen Plan halten. Mit zitternden Händen wandte er sich von den Rosanen ab, drehte ihnen den ungeschützten Rücken zu und sah nun den Hügel hinauf.
Nach dem Blick ins Tal, hinab auf das nahende Verderben, in eine Hölle aus Schwertern und Menschen, erstrahlte der Flodden Hill wie die Heimstatt der Götter. Frederick sah Lagerfeuer, die Licht und Wärme in der Dunkelheit spendeten. Im Wind knatternde Banner und das funkeln von Metall im Schein der Flammen. Wo immer ein Kelte sein Gewehr abfeuerte, zuckte ein Blitz durch die Dämmerung, schwebte Pulverdampf in die Höhe, in dem kleine Funken glitzerten. Gegen das alles hatten die Rosanen anstürmen müssen, viele Tage lang dem Tod entgegen, der vom Berg hinunter geregnet kam.
Und mitten aus diesem Schauspiel von Licht und Dunkelheit ergoss sich der Schwarm seiner Keltengardisten den Versorgungsweg hinab. Unteroffiziere drängten an der Spitze ihrer Gruppen auf ihn zu und Frederick dirigierte sie mit bloßen Fingern nach rechts und nach links. Die ersten beiden hielten den geöffneten Riss in der Reihe der Rosanen offen, die restlichen Trupps waren zwanzig Mann stark und sprinteten hinter der ersten Reihe der Rosanen zu den Seiten.
Hitze stieg Frederick in den Nacken. In seinem Kopf wütete eine Stimme, dass er sich umdrehen musste, dass er dem Feind schutzlos gegenüber stand, dass er nicht einmal versuchte, sich zu verteidigen. Er sah den Flodden Hill hinauf und sprach leise zu sich selbst.
„Das muss ich auch nicht.“
Zwölfhundert Kelten sahen auf ihn und die Befehlskompanie hinab. Sie alle würden seinen Rücken schützen, so gut sie es konnten. Indem sie Kugel um Kugel, Schuss um Schuss in das Tal hinabschickten und die Rosanen auf Entfernung hielten.
Auch Fredericks Männer wandten sich nicht dem Tal zu, sondern sprangen in den Schützengraben vor ihnen. Sie rannten die Gänge entlang und schossen nun auf die Rücken der Rosanen, hinter denen sie standen. Es war ein verzweifelter Plan, doch er war simpel. Die Reihen durchstoßen und den Gegner einkreisen...
Das war nicht bei allen Rosanen gelungen. Frederick hatte sie auf achthundert oder tausend geschätzt und seine Befehlskompanie hatte es vielleicht geschafft etwas mehr als die Hälfte von ihnen zu hinterlaufen. Sie hatten eine zerbrechliche Linie errichtet, in denen die Rosanen eingeschlossen waren.
… lokale Übergewichte schaffen...
Von vorne und hinten unter Feuer genommen, strauchelte der Vormarsch der Rosanen. Einige rannten weiter vorwärts, um in den Nahkampf zu gelangen, andere wandten sich der Gefahr in ihrem Rücken zu.
… und ihn dann zerschlagen.
Wieder holte Frederick Luft und entlockte seinem Signalhorn die klagenden, blechernen Klänge, die inzwischen wie Musik in seinen Ohren klangen. Er sah zu zwölfhundert Kelten hinauf, zu seinen Brüdern und mindestens die Hälfte von ihnen schwangen sich nun aus ihren Schützengräben hinaus. Stahl blitzte auf, als Bajonette in die Reihen der Rosanen stießen, der Jubel und das Kriegsgeschrei aus Hunderten Kehlen endlich, endlich wieder einen Angriff voran trugen.
Jetzt durfte Frederick sich wieder umdrehen.
Panik ergriff ihn fast, als er sah, wie dicht die Rosanen an ihn und seine Befehlskompanie heran gekommen waren. Der Plan hatte das vorhergesehen, doch die Wirklichkeit war erschreckend genug, um ihn zittern zu lassen.
„Umdrehen“, bellte er. „Umdrehen!“
Acht Schützenstellungen hatten sich gebildet, um die erste Reihe der Rosanen von hinten unter Feuer zu nehmen und nun wandten diese Stellungen sich wieder der gegnerischen Hauptlinie zu. Sie standen wieder in ihren eigenen Schützengräben, die sie hatten aufgeben müssen. Jetzt waren sie von einer Vision getrieben: Vielleicht würde es nach diesem Kampf wieder so sein, wie zu Beginn der Belagerung. Der Berg würde den Kelten gehören, vom Fuß bis zur Kuppe. Dafür aber, musste die Befehlskompanie nun Zeit erkaufen.
Zeit, in der die anstürmenden Kelten ihre Gegner aufreiben mussten, in denen die zurück eroberten Meter an Gelände neu besetzt werden und in denen die Rosanen begreifen mussten, was gerade über sie gekommen war.
Frederick legte mit seinem Gewehr an und erschoss zwei Rosane, die ihm viel zu nah gekommen waren. Hektisch begann er nachzuladen. Als er das Pulver in beide Läufe gefüllt hatte, sah er auf. Ein wildes Gesicht sprang auf ihn zu. Blinde Reflexe retteten Frederick das Leben. Er duckte sich in den Graben, riss das Gewehr nach oben und stützte es auf dem Boden ab. Der Rosaner stürzte auf das Bajonett. Ein gellender Schrei erklang dicht über Fredericks Kopf und seine Waffe wurde ihm auf den Händen gerissen. Ein dumpfer Aufschlag erklang hinter ihm und eine Stimme brüllte voller Schmerz und Todesqualen.
Mühsam richtete Frederick sich auf. Vor ihm war der Flodden Hill erstaunlich frei. Erdbrocken regneten zu Boden. Der Rosane hatte ihn so sehr abgelenkt, dass er nicht einmal das Krachen der letzten Salve wahrgenommen hatte. Hinter Frederick krampfte der Rosane sich zusammen. Doch es war nicht der Sterbende, auf den Frederick sich konzentrierte. Die Keltengarde hatte aufgeschlossen. Dreihundert Mann Befehlskompanie – abzüglich der unbekannten Verluste – und dreihundert weitere Kelten, hauptsächlich Brandstifter aus der 3. Kompanie, waren in die vorderen Schützengräben eingerückt und gaben ihr Bestes, um ihre Stellung zu halten.
Frederick dreht sich um und suchte sein Gewehr. Es war hinter ihm auf den Boden gefallen, glücklicherweise mit dem Schulterstück zuerst. Der Lauf war nicht schlimm verschmutzt, aber sein Bajonett konnte er nicht mehr finden. Doch er wusste, wo es in diesem Augenblick war.
Hinter ihm wurde kaum noch gekämpft. Der Plan war aufgegangen und viele Rosane waren dabei gestorben. Doch leider war die Wirkung nicht so stark, wie Frederick gehofft hatte. Sein Wunsch war es gewesen, dass der Verlust so vieler Krieger und der Angriff der Keltengarde die Rosanen in Panik würde zurückweichen lassen. Allerdings hatte er sich getäuscht. Der Angriff war ins Stocken geraten und die Unordnung in der gegnerischen Schlachtreihe groß, doch tat sich etwas dort unten, dass ihm überhaupt nicht gefiel. Im Halbdunkel erkannte er Banner und durch das schwächer werdende Donnern von Artillerie und Gewehren, hörte Frederick etwas anderes, rhythmisches.
Hufgeklapper.
Die Reihen der Rosanen teilten sich. Fußsoldaten wichen aus dem Weg und machten Platz für berittene Truppen. Es wollte Frederick nicht in den Sinn, wie die Rosanen Pferde einen Berg hinauf schicken wollten. Die Tiere würden die Steigung nicht lange aushalten können. Der Einsatz von Kriegern zu Fuß war der einzig sinnvolle Weg, diesen Hügel zu nehmen.
Dann traf ihn die Erkenntnis wie ein Hammerschlag. Natürlich könnten Reiter nicht den halben Hügel hinauf gelangen. Schon die erste Reihe Schützengräben wäre für viele Tiere ein schweres Hindernis, wenn sie nicht mit enorm viel Anlauf darüber hinweg sprangen. Doch die Pferde waren hinter der Infanterie langsam mit nach vorn gerückt. Sie hatten die ersten Meter Anstieg gemächlich traben können und mussten nicht über einen Schützengraben hinweg setzen – denn die Kelten hatten ihnen den Gefallen getan und waren bis zu ihrer untersten Befestigungsreihe vorgerückt. Dort mussten die Reiter nur absteigen und angreifen, denn die Kelten hatten ihre Linien ausgedünnt und standen nicht mehr so kompakt wie noch vor einer guten Wochen. Schließlich waren fast fünfhundert von ihnen bereits gestorben.
Frederick biss sich auf die Lippe und lud eilig sein Gewehr zu ende.
War das von Beginn an so geplant gewesen?
Die Rosanen waren schon immer Experten darin gewesen, die Kelten zu trennen und dann die einzelnen Teile aufzureiben. Dafür tausend Mann zu opfern schien Frederick unglaublich Leben verachtend. Selbst in einem Krieg und selbst bei dieser zahlenmäßigen Überlegenheit.
Oder gab es auf der anderen Seite einen fähigen Kommandanten, der blitzschnell die neue Lage erkannt hatte und in einer drohenden Katastrophe eine Chance erblickte, die er ergreifen musste.
„Schießt auf die Pferde“, rief Frederick und merkte, wie sich seine Stimme überschlug. Kein Plan überlebt den Kontakt mit dem Feind, dachte er bitter und schoss seine erste Kugel ab.
Damit hatte er dann noch sieben.