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Es war heiß. Die Sonne stand im Zenit und brannte unbarmherzig hinab. Quetzalcoatl-Ehecatl gab sich keine Mühe, auch nur den geringsten Wind zu schicken, der die angestaute Hitze von den steilen Steinstufen hätte vertreiben können. So erkannte der Hohepriester einige Schweißperlen im Gesicht des finster dreinblickenden Tlatoani, der die Pyramide zu ihm hinauf erklomm. Es war lange her, dass Montezuma seinen Rat einholte.
»Was treibt Motēcuhzōma Xōcoyōtzin, Sohn des Axayacatl, nach so vielen Jahren an, Auítzotl aufzuchen? Ist es ein Menschenopfer zu Ehren Huitzilopochtlis? Wünscht Montezuma, weitere Stämme zu unterwerfen?«
Montezuma nahm die letzten beiden Stufen, schaute in die weisen Augen seines Onkels, deren sorgenvoller Blick er nicht zu verbergen vermochte.
»Ich hatte einen Traum«, sprach Montezuma mit heiserer Stimme. »Eine Prophezeiung: Das Reich der Azteken wird untergehen.«
Auítzotl runzelte die Stirn und bedeutete Montezuma, sich zu setzen. »Ich hörte bereits von deinem Fieber. Man sieht es dir an. Du solltest dich zum Texcoco-See begeben, im kühlen Wasser baden und die Heilkräuter der Frauen empfangen.«
»Es ist nicht das Fieber«, sagte Montezuma. »Es war eine Botschaft aus Mictlan, dem Reich der Toten. Daran besteht kein Zweifel.«
»Jedes Reich wird untergehen«, entgegnete Auítzotl augenblicklich. »So wie jeder Krieger eines Tages dem Lauf der Sonne folgen wird.«
Montezuma nahm den Federschmuck vom Kopf und setzte sich, Auítzotl tat es ihm gleich. Eine Weile sprach keiner der beiden ein Wort. Schließlich begann Montezuma erneut: »Du hast recht, es brennt ein Feuer in mir. Es dürstet mich nach dem Blut der Feinde der Azteken, doch je mehr Opferblut von den Spitzen unserer Pyramiden herabfließt, desto größer wird mein Durst. Es ist ein Feuer, dass ich nicht zu löschen vermag.«
Auítzotls Blick wurde nun ebenso finster wie der seines Neffen.
»Sag mir Hohepriester Auítzotl, ist es mein Blut, das Huitzilopochtli verlangt?« Die Frage bohrte sich wie ein Faustschlag in Auítzotls Magen. Gewiss, Montezuma wäre bereit, er würde keine Sekunde zögern. Für ihn wäre es die größte Ehre, sein Blut - sein Leben - zu opfern, um den Azteken Frieden zu bringen. Doch wer sollte seinen Platz einnehmen. Niemand stand bereit, in Montezumas Fußstapfen zu treten. Zumindest niemand, der stark genug war, dieses Machtvakuum auszufüllen. Es war nicht wie damals, als er selbst Tlatoani war, und nach seiner Verletzung sein Amt dem überall geachteten, starken Montezuma übergeben konnte. Heute war die Situation anders. Die Stämme, die Montezuma in kurzer Zeit unterworfen hatte, waren noch nicht geeint. Das Reich der Azteken würde im Nu zerfallen. Nein, es war noch nicht an der Zeit für den Tlatoani, seinen Platz zu räumen.
»Erzähl mir von deinem Traum!«, bat Auítzotl.
Montezuma senkte den Blick und flüsterte, so wie man es tat, wenn von Mictlan, dem Reich der Toten, die Rede war: »Ich war ich. Der, der ich immer war. Doch war ich nicht Herrscher |
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über das Reich der Azteken, sondern eines anderen Volkes mit blutrünstigen Reitern auf schnellen Pferden und wir waren geschickt im Umgang mit Pfeil und Bogen. Unser Reich wuchs auf im Schatten der Azteken, beherrscht von einem fremden Tlatoani. Und dieses Aztekenreich breitete sich schneller aus als grünes Moos auf den Mauern der Nordseite dieser Pyramide. Es nahm uns die Luft zum Atmen. Also verbrüderten wir uns mit einem weiteren Volk, einem Volk von Schiffbauern und Elefantenreitern. Gemeinsam eroberten wir das Aztekenreich und teilten es unter uns auf.« Montezuma machte eine Pause.
Auítzotl atmete tief ein und flüsterte ebenfalls: »Du glaubst, Mictlan hat dich durch die Augen eines anderen die Zukunft sehen lassen?«
»Mictlan hat mir noch weitere Rätsel aufgetragen. Denn ich war ich. Der, der ich immer war und nachdem das Aztekenreich vergangen war, brannte dieses Feuer auch in mir, dem Herrscher über die berittenen Bogenschützen. Unsere Brüder, die Elefantenreiter waren nicht zufrieden mit der Aufteilung des eroberten Landes. Sie forderten ihren gerechten Anteil. Ihr gerechter Anteil ist ein Platz in Mictlan, schrie ich im Zorn dem Herrscher eines Volkes im Westen zu und wir schmiedeten ein dunkles Bündnis. So verriet ich meine Brüder, denn ich hatte neue Brüder - stärkere und zugleich bösere. Dieser Krieg war grausamer und entbehrungsreicher, als der vorangegangene, und dennoch gingen wir als Sieger hervor. Doch wer sich mit dem Bösen einlässt, dem wird Böses widerfahren. Bald darauf wurden wir von unseren neuen Brüdern verraten. Es entfachte ein Krieg, dessen Ausmaß alle bisherigen in den Schatten stellte. Wir kämpften zu land, wir kämpften zu Wasser - über Generationen hinweg. Doch wo unsere Männer ehrenvoll ihr Leben dem Kampf für das Volk opferten, flohen die feindlichen Soldaten feige aus der Schlacht - um uns später in einem Hinterhalt aufzulauern. Wieder und wieder rekrutierte ich Krieger, wild entschlossen die Herrschaft zu erlangen, während der Feind im Westen an Plänen mit grausamer Vernichtungskraft arbeitete. Schließlich führte er fortschrittliche Waffen in den Kampf, denen wir nichts mehr entgegenzusetzen hatten. Das Reich der berittenen Bogenschützen schied dahin und mit ihnen verlosch das Feuer in mir.«
Auítzotl, milde geworden durch Alter und Krankheit, den Folgen eines Unfalls, lächelte sanft. Er streckte seinem Neffen beide Hände entgegen: »Hilf einem alten Mann auf die Beine!« Montezuma tat wie ihm geheißen. Die beiden Männer standen dicht beieinander, hoch oben auf der Pyramide, von der aus man Tenochtitlan, den See und weite Teile Texcocos überblicken konnte. Auítzotl zeigte gen Himmel: »Sieh, Tlatoani Montezuma! Die Sonne hat ihren höchsten Punkt erreicht.« Montezuma sah auf und kniff geblendet die Augen zusammen. »Von ihrem Aufgang bis hierher begleiten sie unserer gefallenen Adlerkrieger. Welch eine Ehre! Die Frauen, die ihren Kampf im Kindbett verloren haben, übernehmen den Rest des Weges bis zu ihrem Untergang. Viele Seelen sind es inzwischen, die Hand in Hand mit ihr gehen.« Auítzotl legte nun beide Hände auf Montezumas Schultern. »Dies war keine Prophezeiung. Micltan mahnt dich, nicht leichtfertig zu opfern. Ehre unsere Krieger, ehre unsere Frauen - und ehre sie zu ihren Lebzeiten! Wähle deine Freunde mit Sorgfalt und sei ihnen treu. Sei nicht blind vor Zorn im Angesicht deiner Feinde und erkenne, wenn der Feind in dir selbst erwacht. Entfache ein Feuer in der Nacht, aber halte es in Zaum, auf dass es nicht um sich greift. Sei stark, sei gerecht, sei weise - dann wird das geeinte Volk der Azteken Hand in Hand mit dir gehen, von deinem Aufgang zu deinem Zenit und sogar bis zu deinem Untergang.« |
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