Die Front des Hauses 23-24 Leinster Gardens vermittelte zunächst einen wesentlichen anderen Eindruck als das dahinterliegende Gebäude an sich. Die Straße lag im ruhigen und gehobenen Kensington, einen Stadtteil im Westen Westminsters und des Buckingham Palace. Hier residieren Vorstandsvorsteher, leitende Manager und Chefärzte, nur unweit bekannter Sehenswürdigkeiten der Londoner Innenstadt.
Die Fassade der geschlossenen Reihe fünfstöckiger Häuser machte einen schweren Eindruck auf Besucher. Von Marmorsäulen umringt boten schwere und alte Türen Einlass in die dahinterliegenden Gefilde. Anders jedoch bei Haus 23-24. Die Fenster waren schwarz, verdunkelt und ohne Vorhänge. Einem unachtsamen Passanten wäre nichts aufgefallen, doch ein waches Auge hätte die Scharade erkannt. Haus 23-24 ist kein gewöhnliches Haus. Öffnete man das schwere Portal gelangte man nicht in ein ausladendes Foyer, sondern ein etwas muffiger und kahler Betongang begrüßte den Eintretenden.
Die Fassade des Hauses lügte. Haus 23-24 existierte seit über 100 Jahren nicht mehr. Dahinter lag nämlich eine Öffnung einer Tunnelstrecke der Londoner Tube. Ehemals diente der Graben als Dunst- und Dampfabzug alter Lokomotiven, heute waren die Baubedingungen zu streng und teuer um das Gelände wirtschaftlich zu nutzen. Hinter der Fassade klaffte ein großes Loch, welches man lediglich von der Rückseite betrachten konnte. Nur ein einzelner Gang führte weiter, zu einer Treppe und schließlich zu einem Zugangsweg in die Innereien der großen Metropole.
Diese Schächte dienten Mitarbeitern diverser Versorgungsleister leichten Zugang zu Rohren und Kabelsträngen oder der Tube. Von hier aus gelangte man jedoch auch in versperrte Bereiche. Nur das kleine Sensorfeld neben der unscheinbaren weißen Tür, am Ende eines langen Ganges hinter der einen oder anderen Kreuzung tief unter der Erde, verriet einem umherstreunenden Besucher, das sich dahinter mehr als nur ein Versorgungsschacht befand.
Die Räume dahinter, ein knappes Dutzend an der Zahl, waren mit den ungewöhnlichsten Dingen ausstaffiert. Neben einem Zimmer, welches mit allerlei elektronischen Bauteilen und Gerätschaften gefüllt war, befand sich ein Raum der sonderbare und nicht ganz ungefährliche Substanzen in rauen Mengen enthielt. Ein anderes Zimmer, welches mehr einem billigen Kleiderladen in dem man 5 Shirts für 3£ erwerben konnte ähnelte, hielt dutzende Uniformen und Verkleidungsstücke für jeden Anlass bereit. Einzeln wirkten die Räume fremdartig, doch gesamt genommen boten sie einen guten Unterschlupf für eine Gruppe von Menschen, die nichts Gutes im Schilde führten.
Im Hauptraum des Hauses, welches man durchaus großzügig als beinahe gemütliches Wohnzimmer bezeichnen konnte, drucksten sich 6 Gestalten herum. Abgesehen vom Summen der Ventilation und den fiependen Geräuschen der einen oder anderen schlecht verbauter Elektronik lag eine bedrückende Stille im Raum. Müsste ein Beobachter die Wartenden beschreiben, so würde er sagen, diese würden auf ihren Arzttermin warten oder einen Beleg vom Amt abholen, doch bei genauerem Hinblick würde man feststellen, dass jeder der sechs äußerst nervös war. Die eine feilte sich die Fingernägel wund, der nächste stand still in seiner Ecke und mied den Blickkontakt zu den anderen. Von einem der Herren wehte eine nicht schwache Fahne herüber und der nächste blätterte wild in der kostenlosen Morgenzeitung herum.
Dann, wenige Minuten vor 9 Uhr, begann der Beamer sich aufzuwärmen. Auf das Testbild folgten einige Logos des Herstellers und dann erschien eine raue Karte des Großraum Londons. Es wirkte fast, als würde es sich um eine Liveaufnahme handeln, bewegten sich doch Millionen kleiner Punkte über die Arterien der Stadt. Eine Wandkamera bewegte sich deutlich und scannte den Raum ab. Wer immer dahinter saß und die Gestalten beobachtete machte keinen Hehl daraus. Die an der Wand befindlichen Lautsprecher knackten schließlich und eine elektronische verzerrte Stimme sprach. Ob es sich dabei um eine Frau oder einen Mann handelte, war nicht zu bestimmen.
"Guten Morgen! Ich hoffe sie haben Weg zu diesem Treffen leicht gefunden. Machen sie sich keine Sorgen, ihr Kommen und Gehen wird durch die kommenden Wartungsarbeiten und Handwerker maskiert. So wie sie alle eine Lüge gelebt haben und Leben werden, so ist dieser Unterschlupf hinter einer Lüge versteckt. Mein Name ist Lady und ich bin ihre Kontaktperson und die ihnen zugewiesene Leiterin der Organisation. Ich bin für sie da um Dinge die sie benötigen zu akquirieren oder ihnen mitzuteilen wo sie diese selbst abholen können. Ich begleite sie mit einem Kopf im Ohr auf ihren Einsätzen und überwache sie stetig. Glauben sie nicht, ihr Leben würde eine Privatsphäre zulassen. Weder hier noch dort draußen.
Sie alle wissen, warum sie hier sind. Gemeinsam haben sie eine Schuld von rund 171 Millionen (eine entsprechende Zahl war auf der Leinwand zu sehen) zu begleichen und ich schlage vor, sie bemühen sich. Von ihrem Anteil werden 80% zum Begleichen der Schuld verwendet. Der Rest steht ihnen allen nach einer Säuberungsaktion zur Verfügung.
Ihre erste Aufgabe dient dazu ihre Fähigkeiten und Leistung zu bewerten und analysieren. Das Ziel ist eine kleine Filiale der National First Trust & Savings Bank in Bedford, etwas nördlich von London gelegen (das Bild zoomte aus London heraus, fokussierte neu und vergrößerte auf die genannte Stadt). Die Sicherheitsvorkehrungen sind auf den ersten Blick niedrig, doch lassen sie sich nicht täuschen. Korrupte MPs des Unterhauses deponieren in den Schließfächern der Bank das eine oder andere brisante Dokument. Wir sind an folgenden Schließfächern interessiert:
20041
04124
18314
89986
Genauere Details über die Sicherheit liegen uns nicht vor, sie müssen das Gebäude auf eigener Faust auskundschaften. Ich übermittle ihnen die Adresse eines örtlichen Unterschlupfes, den sie zur Vorbereitung für ihre Aufgabe nutzen können. Nutzen sie ihre Fertigkeiten und finden alle Schutzmaßnahmen der Filiale heraus. Sollten sie für ihren Einsatz besonderes Equipment benötigen, können sie mich über den bekannten Kontaktweg erreichen."
Für einen Moment war es still im Raum.
"Viel Erfolg, ich zähle auf sie. Lady over and out"