Die Bovaner
Kapitel 295 Die Götterwelt der Bovaner
Es werde Licht
Bovak, der Herrscher der Sonne und der Welt, war allein. Seine Gefährtin Lunak, die Mondgöttin und die Mutter der vier Elemente, (Erde, Feuer, Wasser, Luft) hatte sich von Bovak abgewandt. Sie kehrte ihm den Rücken zu und verschwand in die Schatten der Nacht. (Siehe Kapitel 88).
Der Sonnengott blieb einsam zurück und versank in tiefe Trübsal. Seine Kraft, die die Sonne speiste, versiegte beinahe. All sein Bitten und Flehen halfen nichts. Lunak verharrte in der dunklen Nacht und ließ sich von ihren weiblichen Anhängern des Nächtens anbeten.
Bovak war ratlos. Warum handelte seine Gefährtin in dieser Weise? Ein ungelöstes Rätsel. In seiner Einsamkeit sank er auf die Erde nieder und durchstreifte als einfacher Mann die Gefilde seiner Welt. Er wollte vergessen. Auf seiner ziellosen Wanderung begegnete er einer schönen Frau. Ihr Name war Fhara. Sie liebten sich innig und viele Male. Aber Bovak war rastlos und Fhara konnte ihn nicht halten. Er verließ sie und Fhara weinte bitterlich. Aus der leidenschaftlichen Liebe zwischen Bovak und Fhara ging der spätere Kriegsgott U‘ schrak hervor. (Siehe Kapitel 93.)
Auf seiner weiteren rastlosen Wanderung, die kein Ende kannte, lernte er die Menschen genauer kennen. Er begegnete den Bauern auf ihren kargen Feldern, den Handwerkern in den kleinen Dörfern und den Reisenden auf den sandigen Wegen. Sie alle schimpften und haderten mit ihrem obersten Gott. Sie fragten sich, warum Bovak sie nicht mehr liebte, warum er seinen Kindern keine Aufmerksamkeit mehr schenkte. Warum hatten die sterblichen Menschen seine göttliche Gunst verloren? Opferten sie nicht genug? Hielten sich nicht alle Gläubigen an die Regeln und Gebote der Priester? Gab es einen Grund für die verschmähte Liebe der Menschen zu ihrem Schöpfer?
Da erkannte Bovak, wie töricht und selbstbezogen sein Handeln war. Sein Trübsinn über den Verlust seiner Gefährtin hatte ihn seine Geschöpfe vergessen lassen. Das Korn auf den Feldern bekam nicht genügend Sonnenlicht und die Ernten waren schlecht. Die Menschen hungerten und viele starben an Erschöpfung und Verzweiflung. Die Handwerker konnten ihre Waren nicht mehr gegen Getreide eintauschen und die Reisenden waren auf den Wegen nicht mehr sicher. Räuber und Diebe stellten ihnen nach. Auch sie hungerten.
Der Sonnengott war beschämt und beschloss in den Himmel zurückzukehren, um die Not seiner Geschöpfe zu lindern. Gerade wollte er emporsteigen, als drei Schwestern eines nahen Dorfes ihn erkannten. Sie fielen vor ihm auf die Knie und flehten um seinen Segen und seine Gunst. Bovak erkundigte sich nach den Namen der drei liebreizenden Schwestern.
Die Älteste hieß Thuri, die nächste Taina und die jüngste Tsalina. Beschenkt waren sie mit feuerroten Haaren und blasser Haut.
Sie baten Bovak, dass er mit Hilfe seiner göttlichen Macht das Getreide und die Bäume zum Wachsen bringe. Er möge seine wärmenden Strahlen auf die Erde richten, um die eisige Kälte und den kalten Nebel zu vertreiben, der die Erde schon zu lange einhüllte.
Nicht für sich, sondern für ihre Familie und die jüngeren Töchter, die zu verhungern drohten, erflehten sie seine Hilfe. Als Gegenleistung boten sie ihr eigenes Leben und ihre Seelen an.
Bovak gab ihnen Hoffnung, dass sich Alles zum Guten wenden würde. Sein Platz sei hoch am Himmel und dorthin werde er nun zurückkehren. Aber die Furcht und die Erkenntnis über die erneut drohende Einsamkeit ließen ihn zweifeln. Die lange Einsamkeit hatte Spuren im Gemüt von Bovak hinterlassen.
Die drei Schwestern, obwohl jung an Jahren und arm an Erfahrung, erkannten die Gefahr, die von einem einsamen Sonnengott ausging. Sie boten ihm nicht ihre unsterblichen Seelen, sondern ihre sterblichen Körper an. Bovak sollte sie alle drei lieben, schwängern und die später geborenen Kinder hinauf in den Himmel mitnehmen, damit diese ihm dienen und Gesellschaft leisten konnten.
Bovak lehnte ab. Er wusste um die Gefahren einer göttlichen Geburt und um die Schmerzen,
die es bereitete, das Kind eines Gottes zu gebären. Lunak hatte sich einst von ihm abgewandt, da die Schmerzen unerträglich waren und sie keine weiteren Nachkommen haben wollte. Doch dies war nicht der einzige Grund für Lunaks Verschwinden. Ihre dunkle, melancholische Natur kam nun zum Tragen und ließ sie ihre Liebe zu Bovak vergessen. Er berichtete den drei selbstlosen Schwestern von den möglichen Gefahren, doch sie ließen von ihrem Vorhaben nicht ab. Gerne würden sie ihr Leben geben, auf das die Welt erneut gedeihe.
Die Aussicht, der Einsamkeit zu entfliehen, ließ den Sonnengott schließlich einwilligen. Die drei Schwestern verabschiedeten sich tränenreich voneinander und Bovak brachte Thuri in den Osten an den Rand der Erdscheibe. Dort liebten sich beide innig.
Nach ihrer Vereinigung verließ Bovak den Osten und nahm Taina mit in den Westen. Dort liebten sich beide viele Male. Bovak ließ auch sie zurück und nahm Tsalina, die jüngste der drei Schwestern, mit in den Himmel. Dort liebten sie sich ohne Reue.
Als die Niederkunft von Thuri bevorstand, kehrte Bovak zu ihr zurück. Zusammen mit Sihalda, der Göttin der Fruchtbarkeit und der sicheren Geburt, hofften sie auf eine glückliche Niederkunft.
Doch die Schmerzen und die Anstrengungen waren zu groß. Thuri schenkte einem Mädchen das Leben und gab ihres dafür. Groß war die Trauer bei Bovak und Sihalda. Das kleine Mädchen wurde wegen ihrer roten Haare Harisa (Morgenröte) genannt.
Bovak entschied, seine junge Tochter sollte im Osten bleiben und dort heranwachsen. Zwei Tag-Nymphen würden sie beschützen und sie mit göttlichen Früchten speisen. Bovak würde auf seinem Weg über das Firmament jeden neuen Tag vorbeischauen und nach dem Rechten sehen. Von diesem Moment an leuchtete im Osten vor dem Sonnenaufgang der Himmel in rötlichem Feuer.
Harisa wartete jeden Morgen sehnsüchtig auf die Ankunft ihres Vaters.
Bovak und Sihalda erschienen nun bei Taina im weiten Westen, um ihr bei der Geburt beizustehen. Aber auch sie litt unter den fürchterlichen Schmerzen und verlor vor Erschöpfung ihr junges Leben. Sie schenkte einer Tochter das Leben. Nauri ward geboren (Abendröte) und hatte ebenso rote Haare wie ihre ferne Cousine im Osten.
Bovak und Sihalda waren auch über den Tod der jungen Taina zutiefst betrübt. Bovak entschied, dass Nauri im Westen heranwachsen sollte. Am Ende eines jeden Tages wollte der Sonnengott sie besuchen. Dann leuchtete der Westhimmel feuerrot auf, wenn Nauri, ebenfalls beschützt von zwei Tag-Nymphen, die Ankunft ihres Vaters freudig erwartete.
Je näher Bovak rückte, umso mehr stieg die Freude bei seinen Töchtern und ihre roten Haare ließen den Himmel stärker aufleuchten.
Bovak und Sihalda beeilten sich nun, um Tsalina im Himmel beizustehen. Doch sie kamen zu spät. Ein junger Knabe mit feuerroten Haaren ward geboren, doch Tsalina schied, wie ihre zwei Schwestern jung aus dem Leben. Ihre unsterblichen Seelen fanden nicht den Weg in die heilige Halle des Bovak. Bis heute sucht der Sonnengott die verlorenen Seelen der drei Schwestern. Doch Vergebens.
Der junge Knabe wurde Bathak (Lichtbringer) genannt.
Er wuchs rasch zum Manne heran und stand seinem Vater auf dem Sonnenwagen zur Seite. Während Bovak den Sonnenwagen am weiten Firmament lenkte, um jeden Tag den vorgesehenen Weg einzuschlagen, richtete Bathak die bei der rasanten Fahrt emporsteigenden gleißenden Sonnenstrahlen und entstandenen Funken gen Erde.
Mit polierten Bronzescheiben, Spiegeln nicht unähnlich, erwärmte er die Erde und ließ das Getreide und die Bäume wachsen.
Die Bauern, Handwerker und Reisende waren erleichtert. Sie hatten ihre Sonnenscheibe wieder. Das Opfer der drei Schwestern ward nicht vergessen und ihre Namen lebten ewig weiter.
Ihre drei Nachkommen erhielten vom späteren Tiergott kein Geschöpf zugewiesen. Sie alle wurden von dem göttlichen Licht und den feurigen Haaren geblendet und weigerten sich, ihren Platz einzunehmen.