Canuls jüngster Sohn Tepal war derweil dem Flusslauf weiter nach Norden und dann nach Osten gefolgt. Nach wochenlanger Reise durch Ebenen, Hügellandschaften und Wälder erblickte Tepal weit im Westen die Türme einer Stadt, ganz anders als jene der Langröcke im Osten oder der vielen kleineren Stadtstaaten, die sie unterwegs gefunden hatten.
Der erste mögliche Verbündete für den Kriegsfall war gefunden.
"Sollen wir in die Stadt ziehen?", fragte Tepals Leibwächter Puc.
"Noch nicht, getreuer Puc. Lass uns zunächst noch den Osten erkunden. Vielleicht treffen wir dort weitere Völker."
Sie machten sich also auf gen Osten. Ein großer Fehler, wie sich herausstellen sollte: Schon zuvor war das Land, abgesehen von einigen Baumwollvorkommen kärglich gewesen. Die Gegend, in die der Spähtrupp nun zog, glich mehr und mehr einer tödlichen Einöde, mit nichts als Sand. Tagsüber brannte die Sonne unerbittlich auf die Männer herab, nachts wurde es hingegen bitterkalt. Zu allem Überfluss bemerkte Tepal sehr bald, dass die Späher nicht mehr alleine waren. Sie waren gerade zwei Tage am Rand der Wüste unterwegs gewesen, als Tepal zum ersten Mal die Gestalten am Horizont sah. Jemand war ihnen auf der Fährte. Canuls Jüngster gab den Befehl, tiefer in die Wüste zu ziehen. Zwischen den Sanddünen würden sie die Verfolger verlieren, so hoffte er. Und Tepal hatte recht: Nach einigen Stunden waren die Gestalten verschwunden. Zur Sicherheit ließ er von nun an Wachen aufstellen, wenn sie Rast machten.
Wenige Tage später erreichte der Spähtrupp die Küstenstadt La Venta. Die Einwohner waren große Götzenverehrer, interessiert lauschten sie den Erzählungen über den großen Itzamná. Doch so fromm und fleißig sie auch waren für ein Militärbündnis waren die Einwohner dieser Stadt nicht gerüstet. Also zogen die Späher nach zwei Tagen weiter, immer die Küste entlang.
***
In der darauffolgenden Nacht hatte Tepal einen Traum: Ein Adler zog hoch über der Wüste und spähte auf eine Oase herab. Dort saß auf einem Stein eine große, schillernde Echse. Als sie den herabstürzenden Raubvogel bemerkte, stieß sie ein immer lauter werdendes Fauchen aus. Der Adler bohrte seine Krallen in das Fleisch der Echse. Doch statt des Reptils lag nun er, Tepal, auf dem Felsen. Er schrie und schlug wild um sich, doch der riesige Vogel ließ sich nicht abschütteln. Sein Schnabel hackte auf Tepal ein, das Blut rann in Strömen an seiner Schläfe hinunter, und der Boden färbte sich tiefrot, als der Adler einen schrillen Schrei von sich gab...
... schweißgebadet schreckte Tepal auf. Selten hatte er so lebhaft geträumt. Noch immer konnte er seine Todesschreie hören... doch diesmal war es nicht seine Stimme, die in der Ferne hallte. Entsetzt blickte Tepal auf die Sanddüne, wo der Wachposten gerade in sich zusammensackte. Erschlagen von einer hochgewachsenen, bärtigen Gestalt. Starr vor Schreck stand Tepal am Lagerfeuer. Der Bandit schaute ihm einen Moment lang in die Augen - und sprintete die Düne hinab, direkt auf ihn zu. Dann fasste er seinen Mut zusammen, schrie Alarm und griff zu seiner Klinge. Sie würden sich verteidigen, koste es was es wolle.
Einen Bandit nach dem anderen erschlugen die Späher, doch schon bald wurde ihnen klar, dass sie hoffnungslos unterlegen waren. "Herr, wir müssen fliehen", rief Tepals Leibwächter Puc durch das Schlachtengetümmel. Und Tepal wusste, dass sein Getreuer die Wahrheit sprach. Zu viele Barbaren waren es, die hier gegen zu wenige Mayakrieger kämpften. Doch wie sollten sie der Horde entkommen? Egal wohin er seinen Blick wandte, überall standen die Wilden. Sie waren eingekesselt. Da bekam Tepal einen Schlag an den Kopf und sackte zusammen. Benommen blickte er nach oben, wo Puc im letzten Moment den Barbaren erschlug, ehe er selbst von einem Speer getroffen wurde. Dann fiel Tepal in Ohnmacht.
***
Als er erwachte, tobte um ihn herum ein Sandsturm. Er konnte die Augen kaum öffnen, ständig prasselten Sandkörner in sein Gesicht. Durch den Sturm hindurch sah er die leblosen Körper seiner Begleiter. Die Banditen waren verschwunden. Mit letzter Kraft rappelte sich Tepal auf. Jeder einzelne seiner Knochen schmerzte. Er schaute nach links, schaute nach rechts. Er wollte zurück nach Westen, so viel war sicher. Doch in welche Richtung musste er gehen? Plötzlich sah er durch den Sturm hindurch eine leuchtende Gestalt zu sehen. "Wer seid Ihr?", rief Tepal. "Bleibt stehen!" Doch die Gestalt ging weiter. Tepal folgte ihr. Als sich der Sturm gelegt hatte, war auch das Leuchten verschwunden. Tepal blickte in die Ferne - und erschrak: Die Banditen waren wieder da! Weit weg zwar, am Horizont, doch er würde ihnen nicht entkommen können, nicht in seinem Zustand. Auf den zweiten Blick sah er, dass sie von einem Beutezug kamen und einige Siedler gefangen genommen hatten. Sie zogen nach Osten, von ihm weg.
Tepal war in Sicherheit.