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Thema: Irische Legenden

  1. #1
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    Irische Legenden

    Irische Legenden
    Deirdre und Naoise

    Als das Baby Deirdre geboren wurde, bat ihr Vater, Feidhlim, die weisen Druiden in die Sterne zu sehen und ihm zu sagen, was die Zukunft dem Baby bringen würde.

    Die weisen Druiden antworteten:"Dieses Baby wird grosse Not bringen. Sie wird zu der schönsten Frau in Ulster heranwachsen. Aber sie wird auch vielen Männer den Tod bringen."

    Als die Ritter der Roten Hand von Ulster dies hörten sorgten sie sich sehr um ihr leben. Sie gingen zu König Connor und verlangten, dass Deirdre sterben soll.

    Der König dachte eine Weile nach. "Ich habe die Antwort," sagte er. "Deirdre wird weit weg gebracht von hier und wenn sie alt genug ist, werde ich sie heiraten."

    So wurde Deirdre in einen tiefen dunklen Wald gebracht. Der König bestimmte eine alte Frau, mit Namen Leabharcham, die sich um das Kind kümmern und ihr alles beibrigen sollte.

    Als Deirdre älter wurde, wurde sie noch schöner, als die Druiden vorhersagten. Sie hatte langes goldenes Haar und wunderschöne blaue Augen. Aber trotz allem war sie ein sehr einsames Mädchen.

    Eines Tages erzählte Deirdre der alten Leabharcham von einem Traum, den sie jede Nacht hat. "Ich träume von einem großen starken Krieger. Sein Haar ist schwarz wie von einem Raben. Und seine Haut ist weiß wie Schnee. Er ist furchtlos im Kampf." Leabharcham war besorgt, denn sie kannte den Mann, von dem Deirdre träumte. "Sein Name ist Naoise, einer der Söhne von Uisnach. Du musst den Traum nicht weiter beachten. Denn du wirst sehr bald den König Connor heiraten," sagte sie.

    Doch Deirdre bat Leabharcham inständig, nach Naoise zu senden, damit sie den Mann ihrer Träume treffen kann. Zuerst widerstand Leabharcham den Bitten. Aber sie vermochte es nicht mit anzusehen, wie unglücklich Deirdre war und gab ihr endlich nach. So trafen sich Deirdre und Naoise und verliebten sich sofort ineinander. "Wir müssen weit weg von Ulster gehen," sagte Deirdre. "Ich kann Connor nicht heiraten."

    Deirdre, Naoise und seine Brüder Áinle und Ardan fuhren los. Sie reisten rund um Irland, aber keiner wollte ihnen helfen, da alle die Wut von König Connor fürchteten. Endlich segelten sie zu einer kleinen Insel vor der Küste Schottlands.

    Dort lebten sie einige Zeit, bis eines Tages ein Bote vom König kam. Er berichtete, dass der König sie alle vergessen hätte. Deirdre jedoch traute dieser Botschaft nicht, im Gegensatz zu den Söhnen Uisneachs. Deirdre gab nach und so fuhren sie zusammen wieder nach Irland.

    Unterwegs versuchte Deirdre die Brüder zur Rückkehr zu bewegen, doch sie wollten nicht auf sie hören. Als sie ankamen, wurde ihnen geraten, nicht zum Königsschloss zu gehen, sondern zur Unterkunft der Ritter der Roten Hand. Jetzt war Deirdre sich sicher, dass ihnen eine Falle gestellt wurde.

    Deirdre hatte Recht. Bald war die Ritterunterkunft umzingelt. Die Söhne Uisneachs fochten tapfer, aber sie waren zahlenmässig unterlegen. Sie wurden gefangen genommen und zu Connor gebracht. "Wer wird diese Verräter für mich töten?" fragte der König in die Runde. Keiner der Ritter der Roten Hand war bereit, einen Ritter aus den eigenen Reihen zu töten. Plötzlich trat ein unbekannter Krieger von einem anderen Königreich hervor. "Ich werde ihn töten," rief er. Mit einem Schlag köpfte er die Söhne Uisneachs.

    Deirdre schrie auf und fiel tot neben Naoise auf den Boden. So groß war ihr Kummer, dass es ihr das Herz brach.

    Deirdres Vater fürchtete sich so sehr vor Connor, dass er Ulster verließ und nach Connacht ging. Viele andere Krieger gingen mit ihm und traten in die Armee der Königin Maeve ein. Diese Armee kämpfte später in vielen blutigen Auseinandersetzungen gegen die Ritter von der Roten Hand.

    So brachte Deirdre Leid und Kummer nach Ulster, wie die Druiden es vorhergesagt hatten.

  2. #2
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    Teil 2 :

    Irische Legenden
    Oisín in Tír na n-Óg

    Eines Morgens jagte die Fionna wild in der Gegend des Loch Léin in Kerry. Da sahen sie ein wunderschönes weißes Pferd auf sich zukommen. Geritten wurde dieses Pferd von der schönsten Frau, die sie jemals gesehen haben. Sie trug ein langes Kleid, blau wie der Sommerhimmel, bestickt mit silbernen Sternen, und ihr langes goldenes Haar reichte ihr bis zu ihrer Hüfte.

    „Wie heißt Du und aus welchem Land kommst Du?“ fragte Fionn, Anführer der Fionna. „Ich bin Niamh mit dem goldenen Haar. Mein Vater ist der König von Tír na n-Óg,“ antwortete sie.

    „Ich habe von einem Krieger gehört, welchen man Oìson nennt. Ich hörte von seinem Mut und seiner Dichtkunst. Ich bin gekommen, um ihn zu finden und ihn mit mir zurück nach Tír na n-Óg zu nehmen.“ Oisín war der Sohn vom Fionn. Er war ein großer Held und Dichter.

    „Erzähl mir,“ sagte Oisín, „was für ein Land Tír na n-Óg ist.“ „Tír na n-Óg ist das Land der ewigen Jugend,“ antwortete Niamh. „Es ist ein Ort ohne Leid und Sorgen. Jeder Wunsch, den Du hast, wird erfüllt und man behält sich seine ewige Jugend.“

    Oisín bestieg das weiße Pferd und verabschiedete sich von seinem Vater und seinen Freunden. Er versprach, daß er bald zurückkehren würde.

    Das Pferd galoppierte über das Wasser und bewegte sich schneller als ein Schatten. Die Fionna war traurig, ihren Held gehen zu sehen aber Fionn erinnerte sie an das Versprechen von Oisín, bald wieder zurückzukehren.

    Der König und die Königin von Tír na n-Óg hießen Oisín willkommen und hielten ihm zu Ehren ein großes Fest ab. Es war tatsächlich ein wunderschönes Land, genauso wie Niamh gesagt hatte. Er jagte und feierte, und in der Nacht erzählte er die Geschichten von Fionn und der Fionna und ihrem Leben in Ireland. Oisín war mit Niamh so glücklich wie niemals zuvor und schon nach kurzer Zeit heirateten sie.

    Die Zeit verging schnell und obwohl er sehr glücklich war, dachte Oisín immer öfter daran, für einen Besuch nach Hause zurückzukehren. Niamh aber wollte ihn nicht gehen lassen, gab aber endlich nach und sagte: „Nimm mein weißes Pferd. Es wird Dich sicher nach Ireland und zurück bringen. Aber denke daran, was immer auch passiert, Du darfst nie vom Pferd absteigen und irische Erde berühren. Wenn Du es doch tust, wirst Du niemals zu mir oder nach Tír na n-Óg zurückkehren.“

    Sie erzählte ihm aber nicht, daß er schon 300 Jahre in Tír na n-Óg war. Oisín dachte bis jetzt, es seien nur ein paar Jahre gewesen. Irland erschien Oisín wie ein fremder Ort, an den er zurückkehrte. Er fand keine Spur von seinem Vater oder dem Rest der Fionna. Die Menschen, die er sah, schienen ihm klein und schwach zu sein. Als er durch Gleann na Smól kam, sah er einige Männer, welche versuchten, einen großen Stein zu bewegen.

    „Ich werde Euch helfen,“ sagte Oisín. Die Männer erschraken vor diesem großen Krieger auf dem weißen Pferd. Oisín hob den Stein mit nur einer Hand hoch und schleuderte ihn davon. Dabei brach der Sattelgurt und Oisín fiel auf die Erde. Sofort war das weiße Pferd verschwunden, und die Männer sahen vor sich nur noch einen sehr, sehr alten Mann. Sie brachten ihn zu einem Heiligen, welcher in der Nähe wohnte.

    „Wo sind mein Vater und die Fionna?“ fragte Oisín. Als der Heilige ihm sagte, daß sie schon lange tot seien, brach es Oisín das Herz. Er erzählte von den guten Taten Fionns und der Fionna und die Abenteuer, die sie zusammen erlebt haben. Er erzählte auch von seiner Zeit in Tír na n-Òg und seiner wunderschönen Frau, welche er nie wieder sehen würde. Obwohl er bald darauf starb, lebte die wunderschöne Geschichte von Oìson weiter.

  3. #3
    Unschuld unter Wölfen Avatar von Herbstblatt
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    Hab ich da nicht eben noch was von einer Fionna gelesen?

    Und nun steht da was von der Deidre aus SMAC?

    edit:

    ah, okay - jetzt steht beides da
    und die Moral von der Geschicht', Mädchen weich vom Wege nicht
    Bleib allein und halt nicht an, traue keinem fremden Mann
    geh nie bis zum bittren Ende, gib dich nicht in fremde Hände
    Deine Schönheit zieht sie an, und ein Wolf ist jeder Mann.

  4. #4
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    Irische Legenden
    Legenden sind in Irland sehr beliebt und haben eine lange Tradition. Oft kommen in diesen Geschichten Kobolde (die Leprechauns), Todesfeen und viele andere Gestalten vor. Die seltsamen Ideen wurden aus der keltischen Vergangenheit übernommen. In den Märchen werden die Feen als Engel, die vom Himmel gefallen sind, bezeichnet. Diese können den Menschen Glück, aber auch Verderben bringen. Deshalb warnt der Aberglaube, diese Geister mit Respekt zu behandeln, da sie eine sehr große Macht haben. Wenn man zum Beispiel ein neues Haus auf einem Elfenpfad baut, muß man mit einem unangenehmen Zwischenfall rechnen.

    Der Leprechaun ist die bekannteste Figur in den Irischen Märchen. Es gibt eine Legende, die besagt, daß wenn man einen Leprechaun fängt, man von diesem zu einem Topf mit Gold geführt wird. Aber wenn man ihn nur eine Sekunde lang nicht anschaut, ist er für immer verschwunden.

    Eine der bekanntesten Geschichten über Leprechauns handelt von einem Jungen namens Tom. Dieser ergriff die kleinen Kreaturen und bedrohte sie, um so das Versteck des Schatzes der Elfen herauszufinden. Der Leprechaun führte Tom zu einem großen Feld mit Zauberkraut und zeigte ihm die Pflanze, unter der ein Topf mit Gold vergraben war. Aber Tom hatte keinen Spaten dabei, und so markierte er die Pflanze mit einem roten Band. Tom vergaß alle Warnungen, die er gehört hatte und ließ den Leprechaun gehen. Als Tom mit dem Spaten zurückkam, sah er, daß jede Pflanze des Zauberkrautes ein rotes Band hatte. Es waren zu viele, um sie auszugraben und seine Träume vom Reichtum waren verschwunden, genau wie der Leprechaun.

    Die Todesfee ist die gefürchtetste Fee in ganz Irland. Wenn eine Todesfee vor einem Haus weint, bedeutet das, daß in dieser Familie bald ein Todesfall zu erwarten ist. Sogar heute haben diese Legenden eine große Bedeutung in Irland.

  5. #5
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    aus: Märchenschatz der Welt: Märchen aus Irland

    Frau Sullivan fürchtete, die Elfen hätten ihr jüngstes Kind gestohlen und ein anderes an seine Stelle gelegt, und gewisse Anzeichen schienen auch den Verdacht zu bestätigen, denn ihr gesundes, blauäugiges Kind war in einer einzigen Nacht zu einem armen Wicht zusammengeshrumpft, der unaufhörlich schrie und heulte. Die arme Frau Sullivan war dadurch recht unglücklich, und alle Nachbarn, mit denen sie über diese Angelegenheit sprach, sagten, daß ihr eigenes Kind ohne allen Zweifel bei dem stillen Volke, wie man in Irland die Elfen nennt, sich befände, und daß die Elfen eines ihrer Kinder dafür unterschoben.
    Frau Sullivan mußte wohl glauben, was jedermanm sagte, aber ein gewaltsames Mittel, sich über die Sache Gewißheit zu verschaffen, wollte sie doch nicht anwenden. Obgleich sein Gesicht verwelkt, sein Leib fast zu einem Gerippe abgemagert war, so hatte das Kind doch eine bestimmte Ähnlichkeit mit ihrem eigenen Kinde, und sie konnte sich nicht entschließen, dasselbe lebendig auf einen glühenden Rost zu legen, oder seine Nase mit einer glühenden Zange zu zwicken, oder es in den Schnee neben den Weg zu legen, ob ihr gleich diese und ähnliche Mittel, ihr eigenes Kind zurückzuerhalten, angelegentlich empfohlen wurden.
    Eines Tages begegnete Frau Sullivan einer weisen Frau, die unter dem Namen der grauen Lene in der ganzen Gegend wohl bekannt war.
    "Ihr seht mir heute so trübselig aus, Frau Sullivan", waren die ersten Worte der grauen Lene.
    "Das geht natürlich zu, Lene", antwortete Frau Sullivan, "mein eigenes liebes Kind ist mir ohne weiteres aus der Wiege geholt worden, und die Elfen haben mir ein häßliches, winziges, eingeschrumpftes Ding an seine Stelle gelegt; kein Wunder, daß ihr mich voll Sorgen seht."
    "Das macht Euch keine Schande, Frau Sullivan", sagte Lene, "aber seid ihr auch vgewiß, daß die Elfen es sind, die Euer Kind geholt haben?"
    "Freilich!" erwiederte Frau Sullivan; "gewiß genug zu meinem Leidwesen; und darf ich meinen beiden Augen nicht trauen? Jedes Mutterherz müßte es an meiner Stelle fühlen."
    "Wollt Ihr den Rat einer alten Frau annehmen?" fragte die graue Lene, indem sie die unglückliche Mutter mit ihrem seltsamen, geheimnisvollen Blicke anschaute.
    "Kann ich mein Kind zurückerhalten, mein eigenes liebes Kind, Lene?" fragte Frau Sullivan mit großer Bewegung.
    "Wenn Ihr tut, wie ich Euch sage", antwortete Frau Lene, "so werdet Ihr es erfahren."
    Frau Sullivan schwieg voller Erwartung, und die Alte fuhr fort:"Setzt einen Kessel mit Wasser über das Feuer und laßt es sieden, dann holt ein Dutzend frisch gelegter Eier, schlagt sie auf und nehmt die Schalen; das übrige schüttet weg. Wenn das getan ist, so werft die Schalen in den Kessel mit dem siedenden Wasser und dann werdet ihr bald erfahren, ob es Euer eigen Kind ist oder ein Elfe. Findet Ihr aber, daß es ein Wechselbalg ist, so nehmt die glühende Feuerzange und stoßt sie ihm in seinen garstigen Rachen, und er soll Euch dann weiter keinen Verdruß machen, dafür stehe ich Euch."
    Frau Sullivan eilte nach Hause und befolgte den Rat der grauen Lene. Sie setzte den Kessel über das Feuer, legte Torf genug unter und brachte das Wasser in ein gewaltiges Sieden und Sprudeln.
    Das Kind lag zum Erstaunen still und ruhig in der Wiege, doch jetzt, bei dem Anblicke des großen Feuers und des Kessels mit Wasser darüber, riß es die Augen auf, die wie Sterne in einer Winternacht funkelten. Es sah mit großer Aufmerksamkeit zu, als Frau Sullivan die Eier aufschlug und die Schalen in das siedende Wasser warf. Endlich fragte es, und seine Stimme klang wie die Stimme eines alten Mannes:"Was macht Ihr da Mutte?"
    Der Frau war, wie sie selbst sagte, zumute, als ob ihr der Atem genommen würde, wie sie das Kind sprechen hörte. Doch sie beschäftigte sich damit, das Eisen in die Glut zu legen und antwortete, ohne ein Erstaunen über die Worte zu zeigen: "Ich braue, mein Sohn."
    "Und was braut Ihr, Mutter?" fragte der Balg, dessen unnatürliche Gabe zu sprechen deutlich bewies, daß er von den Elfen abstammte.
    "Wäre nur das Eisen schon glühend!" dachte Frau Sullivan; aber das erforderte einige Zeit, und sie entschloß sich, ihn im Gespräch aufzuhalten, bis das Eisen geschickt wäre durch seine Kehle zu fahren. Sie wiederholte deshalb die Frage: "Du willst wissen, was ich braue, mein Söhnchen?"
    "Ja, Mutter", sagte er, "was braut Ihr?"
    "Eierschalen, mein Söhnchen."
    "Ach", schrie das Teufelchen laut auf, richtete sich in der Wiege in die Höhe und schlug die Hände zusammen: "Ich bin fünfzehnhundert Jahre auf der Welt und habe niemals gesehen, daß man Eierschalen braut!"
    Indessen war das Eisen glühend geworden. Die Frau ergriff es und eilte damit nach der Wiege; aber wie es nun geschah, sie glitt mit dem Fuß aus, fiel auf den Boden und das Eisen fuhr aus ihrer Hand in die andere Ecke des Zimmers. Sie raffte sich jedoch geschwind auf und lief zu der Wiege, in der Absicht, den verwünschten Balg, der darin lag, in das siedende Wasser zu werfen.
    Doch was erblickte sie darin? Ihr eigenes Kind in süßem Schlafe, eines seiner weichen, runden Ärmchen auf das Kopfkissen gelegt, und seine Züge so mild, als wäre es niemals in seiner Ruhe gestört worden, bloß der rote Mund war von einem reinen und sanften Atem bewegt.

  6. #6
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    Die Lady von Shalott
    Alfred Lord Tennyson
    Auf beiden Seiten des Flusses erstrecken sich große Gersten- und Roggenfelder, die an die Heidelandschaft angrenzen und den Himmel berühren. Und durch das Feld verläuft die Straße zum vieltürmigen Camelot. Und die Leute gehen auf und ab und schauen nach den Lilien dort unten, die um eine Insel herum blühen, die Insel von Shalott.

    Weiden ergrauen, Espen erzittern und eine sanfte Brise setzt sich fort mit den Wellen, die seit Ewigkeiten an der Insel vorbeitreiben, der Insel im Fluß, der nach Camelot fließt. Vier graue Mauern und vier graue Türme überragen ein Meer aus Blumen, und die stille Insel umschließt die Lady von Shalott.

    Nur die Schnitter, die früh am Morgen draußen in der reifen Gerste arbeiten, hören ein Lied, das freundlich vom Fluß herüberklingt, der sich nach dem betürmten Camelot hinunterwindet. Und wenn der Mond am Himmel steht, dann flüstert der müde Schnitter, der die Garben im luftigen Hochland bündelt, "das ist die Fee, die Lady von Shalott."

    Dort webt sie Tag und Nacht ein magisches Tuch aus leuchtenden Farben. Sie hat eine Stimme flüstern hören, daß ein Fluch auf sie fällt, wenn sie ihre Arbeit unterbricht und auf Camelot hinunterblickt. Sie weiß nicht, wie der Fluch aussehen wird, und deshalb webt sie unaufhörlich. Sie hat kaum eine andere Möglichkeit, die Lady von Shalott.

    Und durch den magischen Spiegel, der all die Jahre vor ihr hängt, bewegen sich Schatten der Welt, die sie nicht erreichen kann. Sie sieht die Straße, die sich nach Camelot hinunterwindet. Und manchmal reiten durch den blauen Spiegel paarweise die Ritter. Sie hat keinen treuen Ritter.

    Doch es bereitet ihr noch immer Freude, die magischen Erscheinungen des Spiegels in ihr Tuch einzuweben. Denn oft bewegte sich durch die stillen Nächte ein Trauerzug mit Federschmuck, Lichtern und Musik nach Camelot. Als der Mond am höchsten Punkt über ihr stand, kamen zwei junge Liebende, die spät geheiratet haben. "Ich bin halb krank von den Schattenbildern", sagt die Lady von Shalott.

    Einen Bogenschuß von ihrer Kemenate entfernt ritt er zwischen den aufgestellten Garben aus Gerste, die Sonne leuchtete schimmernd durch die Blätter und funkelte auf den metallenen Beinschienen des kühnen Sir Lancelot. Im Schild, der im gelben Feld blitzte, kniete ein englischer Ritter (St. Georg) vor einer Dame, nicht weit entfernt von Shalott.

    Seine breiten Augenbrauen glühten im Sonnenlicht. Auf glühenden Hufen flog sein Streitroß dahin. Unter seinem Helm wallten seine pechschwarzen Locken hervor, während er nach Camelot ritt. Vom Ufer und vom Fluß her erstrahlte er im Kristallspiegel. "Tirra, lirra" sang Sir Lancelot.

    Sie verließ ihr Tuch, verließ ihren Webstuhl, machte drei Schritte durch den Raum und sah die Wasserlilien blühen, sie sah den Helm und den Federschmuck und blickte nach Camelot hinunter. Das Tuch flog hinaus und trieb auf dem Wasser dahin. Der Spiegel barst entzwei, "der Fluch ist über mich gekommen!" schrie die Lady von Shalott.

    Im stürmischen Ostwind ächzten die fahlen Wälder, der Fluß klagte in seinem Bett, der tief hängende Himmel regnete sich über dem turmbewehrten Camelot aus. Sie ging nach unten, fand unter der Weide ein Boot im Wasser liegen, und um den Bug schrieb sie "Die Lady von Shalott".

    Sie blickte mit gläsernem Angesicht den trüben, verschwommenen Fluß hinab, wie eine fest entschlossene Seherin, die ihr eigenes Unglück erkennt. Als der Tag zu Ende ging, löste sie die Kette und legte sich nieder. Der breite Strom trug sie weit fort, die Lady von Shalott.

    Sie hörte einen heiligen, traurigen Lobgesang, bald laut, bald leise gesungen, bis ihr Blut allmählich erstarrte und sich ihre Augen völlig verdunkelten. Ehe sie auf einer Welle das erste Haus am Ufer erreichte, starb sie, während ihr Lied sang, die Lady von Shalott.

    Unter Türmen und Balkonen, an Gartenmauern und Säulenhallen glitt sie als hell schimmernde Gestalt vorbei, todesblaß und still zwischen den Häusern hindurch. Hinaus an den Hafendamm kamen die Ritter, Bürger, Herren und Damen, und am Bug lasen sie "Die Lady von Shalott".

    "Wer ist das und was ist hier los?" Und im hell erleuchteten Palast verstummte die königliche Ausgelassenheit, und die Ritter von Camelot bekreuzigten sich aus Furcht. Aber Lancelot dachte ein wenig nach und sagte:"Sie hat ein hübsches Gesicht. Gott in seiner Barmherzigkeit verleihe ihr seine Gnade, der Lady von Shalott."

  7. #7
    Just a normal family Avatar von Chris
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    Alles, was so lang ist, sollte eigentlich automatisch in die Rubrik "Geistreiches"
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    Eugene A. Cernan


    [Civ4] Mod Chooser
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    ♀♂✝♂♂

  8. #8
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    Original geschrieben von Chris
    Alles, was so lang ist, sollte eigentlich automatisch in die Rubrik "Geistreiches"
    hmm.

    Meinst Du. Könnte sein.

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