Die Kreuzfahrer hauten lautstark auf die Pauke, ihr martialisches Auftreten habe die verweichlichten Byzantiner in Angst versetzt. Für die Moral der Verteidiger war die ganze Sache tatsächlich ein herber Schlag. Obwohl die Belagerer nur noch Proviant für wenige Tage hatten – Alexios III. hätte die Bedrohung also einfach aussitzen können – kochte innerhalb der Stadtmauern die Wut der Menschen jetzt so hoch, dass der Kaiser sich gezwungen sah, alles greifbare Geld zusammenzuraffen und in der Nacht des 17. Juli 1203 aus Konstantinopel zu fliehen.
Als man im Palast gewahr wurde, dass der Kaiser abgehauen war, holte man den geblendeten Isaak Angelos (den Vater von Prinz Alexios) aus dem Kerker und setzte ihn auf den Thron. Es war völlig unüblich, einem Blinden die Krone zu geben – gerade deswegen wurden Konkurrenten ja bevorzugt um ihr Augenlicht gebracht – doch man hoffte, Isaak werde seinen Sohn dazu bewegen, das Kreuzritterheer von der Stadt wegzuführen. Zum Anreiz bot man Alexios an, als Mitherrscher auf dem Thron Platz zu nehmen. Die Zeichen standen auf Frieden, im katholischen Lager brach Jubel aus über den leicht errungenen Sieg. Eine Delegation wurde in die Stadt geschickt und präsentierte dem bestürzten Isaak die Vereinbarung, die sein Sohn mit den Kreuzrittern geschlossen hatte. Angesichts der Machtverhältnisse blieb ihm erst einmal nichts anderes übrig, als der Übereignung seines Kaiserreiches an Rom zuzustimmen. Gut gelaunt schlugen die Kreuzfahrer neue Lager auf, sie erhielten reichhaltigen Proviant von den Griechen und erkundeten schon einmal, wo überall die byzantinischen Schätze aufbewahrt wurden.
Für eine Invasion Ägyptens war es Ende Juli 1203 bereits zu spät für dieses Jahr, die Kreuzfahrer – sie wurden hier nun die „Lateiner“ genannt – beschlossen vor Konstantinopel zu überwintern. Die Einhaltung des Versprechens, dass Isaak II. und sein Sohn, nunmehr zu Alexios IV. gekrönt, musste zudem überwacht werden. Außerdem sollte sichergestellt werden, dass es nicht zu einem erneuten Umsturz in Byzanz kommt: es war klar, dass die beiden Herrscher zügig ermordet werden, sobald die lateinische Schutzmacht abgezogen ist. Kein Wunder, nachdem sie ganz Byzanz quasi verschenkt hatten.
Der Druck im Kessel wuchs. Es zeigte sich, dass der Kaiser sein Versprechen gar nicht einhalten konnte, die Schulden bei den Lateinern waren zu gewaltig. Deren Kaufleute wiederum benahmen sich in Konstantinopel wie die Herren der Stadt, die Wut der Griechen entlud sich in Gewalt gegen die ungebetenen Gäste.
Und das zog Strafmaßnahmen nach sich, Konstantinopel wurde immer mehr verwüstet. Schließlich erklärte der Kaiser, er könne nicht weiter bezahlen. Und da er wusste, dass die Kreuzfahrer über den Winter hinweg auf seinen Proviant angewiesen waren, drohte er zugleich, ihnen den Nachschub zu streichen. Dandolo platzte der Kragen, er schrie Isaak II. direkt ins Gesicht: „Übler Kerl! Wir haben dich aus dem Dreck geholt, wir werden dich zurückwerfen. Ich biete dir die Stirn, und wisse wohl, dass ich dir von jetzt an alles Schlimme zufügen werde, das in meiner Macht steht.“
„So begann der Krieg“, kommentierte Villehardouin lakonisch.
Die Byzantiner nahmen die Sache selber in die Hand. In einer nächtlichen Aktion griffen sie mit Brandschiffen die venezianische Flotte an. Mit größter Mühe retteten die Venezianer ihre Galeeren unter dem Spott einer Kulisse von Einheimischen. Ein griechischer Mob stürmte die Hagia Sophia und forderte Senat und Kirche auf, einen neuen Kaiser zu wählen. Ein Kandidat nach dem anderen lehnte eine so gefährliche Rolle ab, bis ein junger Adeliger namens Nicholas Kannavos am 27. Januar 1204 kurzerhand gegen seinen Willen von Senat und Kirche zum Gegenkaiser gesalbt wurde. Die sogenannte byzantinische Partei dagegen hob einen eigenen Kandidaten auf den Schild, einen Mann namens Murtzuphlos, der sich den Namen Alexios V. zulegte.
Stich von Gustave Dore: Enrico Dandolo verhandelt mit Murtzuphlos
Am selben Tag wandte sich der verzweifelte Alexios IV. an die Kreuzfahrer um Hilfe, doch seine Einladung an sie, die Stadt zu betreten, brachte für seine Gegner das Fass zum Überlaufen. Noch in der Nacht wurde Alexios IV. ergriffen und in den Kerker geworfen. Jetzt gab es in Byzanz vier Kaiser gleichzeitig, eine groteske Situation und ein Zeichen, wie todgeweiht das Reich zu jener Zeit bereits war. Die Anzahl wurde aber rasch bereinigt: Murtzuphlos/Alexios V. ermordete binnen Tagen den blinden Isaak II. sowie den Kirchenkandidaten Kannavos. Anschließend ging er daran, die Mauern von Konstantinopel wieder verstärken zu lassen, das machte den Byzantinern Mut. Sie brachten ihn zum Ausdruck, indem sie drei Venezianer festnahmen und auf der Stadtmauer an Haken aufhingen. Dass der neue Herrscher Alexios V. ein zupackender Typ mit Hass auf die Lateiner war, bewies er, indem er eigenhändig die drei Körper in Brand steckte. Den Nachschub an Proviant an die Lateiner stellte der Kaiser natürlich umgehend ein. Arschlecken!
Die Kreuzfahrer standen düpiert vor den Mauern und reagierten auf den Boykott wie zu erwarten war: Sie plünderten über beträchtliche Entfernungen das Umland aus. Alexios V. befahl, die Raubtrupps der Lateiner zu überfallen, da passierte ihm ein schwerer Lapsus: Bei einem der Gefechte ging der große Talisman der byzantinischen Armee verloren, eine Ikone der Jungfrau Maria. Der Kaiser versuchte törichterweise, seinem Volk den Verlust zu verheimlichen, und als die Kreuzfahrer davon erfuhren, präsentierten sie unter großem Jubel die Ikone vor der Mauer, um ihren Rivalen zu demütigen. Der Kaiser fürchtete, unter die Räder zu geraten und ließ vorsichtshalber nun am 8. Februar 1204 auch den eingekerkerten Alexios IV. erdrosseln.
Für die Lateiner ein willkommener Vorwand, Murtzuphlos als Mörder an dem rechtmäßigen Kaiser zu brandmarken. Ohne Möglichkeit, weiteren Proviant zu akquirieren, mussten die Kreuzfahrer sowieso eine Entscheidung herbeiführen: Der zweite Angriff auf Konstantinopel.