Kapitel 6

Was bedeutete es, frei zu sein?
Diese Frage schlich sich wie ein kleiner Dieb in Caéns Gedanken, während sie keuchend in einer Häuserruine verschnaufte und zu verstehen versuchte, was gerade geschehen war. Ja, was bedeutete es eigentlich.
Es bedeutete, dass sie tun konnte, was immer sie wollte. Kein verdorbener Erwachsener und kein altes Stück Papier geboten ihr, keine Organisation und kein Konzern bestimmte ihre Bahn. Sie konnte gehen, wohin sie ihre Füße trugen; sie konnte tun, woran sie niemand hinderte. Sie war sie selbst.
Aber leider bedeutete Freiheit auch, dass sie schutzlos war. Es gab niemanden, der verhinderte, dass die Bestien, die die Welt bevölkerten, sie man eben in kleine Stücke rissen, nur um dann ihre Knochen abzunagen. Es gab nur ein paar Dutzend Leute, die sie überhaupt kannten. Aufstehen, um ihr beizustehen, würde niemand von ihnen.
Ihr Leben lang hatte sie Bindungen vermieden. Ihr Leben lang wollte sie frei sein.
Und nun hatte sie versagt. Nun hatte sie den Hehler verärgert. Dieses Teil war ihm wichtig, das war ganz klar. Und wenn sie es ihm nicht brachte, dann würde er an ihr demonstrieren, was er mit Leuten tat, die versagten.
Sollte sie weglaufen? Schlechter Zug. Dann würde er meinen, sie hätte das Teil und wollte es ihm nicht geben, und dann würde er sie mit umso größerem Eifer jagen lassen.
Mist, verdammter. Caén verfluchte sich selbst. Wieso war sie nur gelaufen? Warum nur dieser Lüftungsschacht. Sie war doch ein großes Mädchen, sie war doch stark und zäh. Wie konnte sie nur so unüberlegt und dumm sein?
Ein Squad Lunar-Soldaten? Ja, diese waren eine Gefahr. Aber waren sie wirklich schlimmer als ein blutgeiler Hehler?
Caén seufzte. Freiheit war schön und gut, doch dummerweise war es die Welt nicht. Auch die Menschen, die sie bevölkerten, waren weder schön noch gut. In einem Käfig voller Bestien überleben die kleinen Tiere nur, solange keines der großen Tiere auf es aufmerksam wird. Sie müssen nützlich sein oder unsichtbar, nur so können sie vielleicht überleben. Und Caén war weder nützlich noch unsichtbar gewesen.
Wenn sie ihre Möglichkeiten so überdachte, so blieb ihr dreierlei: Sie konnte sich dem Hehler stellen, sich entschuldigen und behaupten, das Teil wäre schon weg. Das war glaubhaft, doch dann würde er vielleicht seinen Zorn an ihr auslassen. Also nicht gut.
Sie konnte fliehen. Die Stadt war groß, und es gab noch weitere. Die Macht des Hehlers war beschränkt, vielleicht war sie schnell genug. Doch wenn sie es nicht war… auch nicht gut.
Sie musste zurück. Mehr blieb ihr nicht. Squad hin oder her, Wächter hin oder her. Sie musste den Lüftungsschacht zurückklettern und hoffen, dass sie das Teil noch irgendwo fand. Und wenn sie es nicht fand, dann musste sie zumindest irgendwas von unten mitbringen, mit dem sie bewies, dass sie da gewesen war… oder so. Irgendwas brauchte sie. Am besten einen Erfolg.
Caén seufzte. So viel zum Thema Freiheit. Ja, sie war frei und konnte tun und lassen, was sie wollte. Doch jeder andere war ebenso frei, mit ihr zu tun oder zu lassen, was er wollte.
Und um das zu verhindern, nahm sie Unfreiheit in Kauf.