„Nebb?“ Erschrocken fuhr Kester herum und ließ die Uniformjacke fallen, die zu falten er sich gerade noch Mühe gemacht hatte. Er schaute sich zu dem Lichtdieb um, der lässig in der offenen Tür lehnte und mit lautem Knacken in einen Apfel biss. „Du – lebst!?“
„Hast du was anderes erwartet?“, fragte Nebb kauend. Kester bückte sich und hob die Jacke auf, hängte sie über die Lehne des Stuhls neben sich. „Ich... ich weiß es nicht.“ Der Lichtdieb seufzte theatralisch. „Ach Kester, du solltest mich doch besser kennen. Wenn mich in diesem Nest einer kennt, dann doch wohl du.“ Das entsprach der Wahrheit. „Um ehrlich zu sein... irgendwie hatte ich nie das Gefühl, dich wirklich zu kennen. Also so richtig wirklich“, gab Kester zurück. Auch das entsprach der Wahrheit. „Hast du nicht Angst, dass sie dich wieder schnappen?“, fragte Kester und trat unbeholfen einen Schritt auf Nebb zu. Der aß einen weiteren Bissen von seinem Apfel und zuckte mit den Schultern. „Vielleicht hab ich mir ja jetzt auch einen sicheren Hafen gesucht und bin in Norovaras Dienste eingetreten. Wie du.“ Nebb schaute Kester durchdringend an und dieser wich wieder zurück. „Ich hab dich nicht verraten. Das glaubst du mir doch, oder? Nebb, das glaubst du mir doch!“ Der Lichtdieb antwortete nicht.
„Würde das etwas ändern?“, fragte er schließlich zurück und diesmal war es Kester, der ihm die Antwort schuldig blieb.
„Warum bist du hergekommen?“, wollte er stattdessen wissen und fing wieder an, seine Uniform zusammenzulegen. „Wollte nur mal schauen, wie es dir so geht.“
Nebb trat in den kleinen Raum. „Hast es ja doch recht gemütlich hier“, kommentierte er die karge Ausstattung. Außer einem Stuhl war in dem Raum nur ein niedriger Tisch, auf dem eine Waschschüssel stand und auf die Kester ein paar frische Sachen zum Anziehen gelegt hatte. Der Farbe des Waschwassers nach zu urteilen war es schon zu oft benutzt worden, als dass man damit noch irgendwas sauber bekäme. „Der Schlafsaal ist den Gang rauf...“, antwortete Kester ausweichend. „Aber ja, ich kann nicht klagen. Ist anstrengender, aber ruhiger als früher.“ Nebb nickte verstehend.
Eine Weile schwiegen sich die beiden an, während Nebb seinen Apfel verspeiste und Kester den Rest seiner Uniform in Ordnung brachte. Jacke, Hemd und Hose legte er sorgfältig auf einen Stapel, den er mit der Wachkappe krönte. Abgesehen von dem Wappen waren alle Kleidungsstücke schwarz. Pechschwarz. Nebb besah ihn sich von der Seite. Kesters Augen folgten aufmerksam jeder Bewegung seiner Hände, gewissenhaft, geübt. Ein großes Feilchen zierte sein rechtes Auge und die Nase sah gebrochen aus.
„Tut es weh?“ Fragte Nebb. Kester blickte ihn verwirrt an und Nebb tippte sich gegen die Nase. Kester verzog schmerzerfüllt das Gesicht, rang sich aber ein Lächeln ab. „Es geht. Hast nen harten rechten Haken, muss ich dir lachen.“ Nebb lachte auf
„Schätze, ich sollte mich dafür noch bei dir bedanken“, flüsterte sein Kamerad von früher. „Immer wieder gern“, entgegnete Nebb. „Sag, warum bist du wirklich hier?“, seufzte Kester schließlich und blickte ihn aus schüchternen Augen an.
„Um dir das hier zu geben.“ Nebb legte das Kerngehäuse neben Kesters Uniform und kramte unter seinem Kittel einen Gegenstand hervor. Er reichte ihn Kester, der ihn neugierig in Augenschein nahm. „Ha! Ein Ohring! Und was für einer!“
Das Schmuckstück war aus Gold mit einer großen Perle daran, die das wenige Licht im Raum einzufangen und damit zu spielen schien. „Weißt du noch, wie du mir gezeigt hast, wie man so einen stiehlt? Den Trick mit der Münze? Man tut so, als würde man sie ihnen aus den Ohren zaubern, dabei es ist es nur ein Trick. Wobei, ein bisschen ist es auch wie Zaubern – denn danach ist der Ohrring verschwunden.“ Kester kicherte und machte die vor langer Zeit geübten Gesten nach, nur mit dem Ohrring anstelle der Münze. Abschließend zeigte er Nebb die leere Hand – und den Ohrring, der in seine andere Hand gewandert war. Nebb erinnerte sich. Es war eine der wenigen Erinnerungen, die er noch ungewöhnlich klar und scharf vor seinem geistigen Auge sah. Kester hatte sich nicht besonders geschickt angestellt und er hatte seinen ganzen... Charme aufbringen müssen, um die edle Dame, an der Kester sein Glück versucht hatte, davon abzuhalten, die Wache zu holen.
Kester besah sich das Schmuckstück genauer, strich mit dem Finger zärtlich über die Perle. „Ha, er sieht ein bisschen aus wie der, an dem du mir den Trick gezeigt hast“, stellte Kester fest. „Aber es ist nicht zufällig...?“ Nebb schüttelte den Kopf. „Den haben wir der Rothaarigen im Sonnenkrug geschenkt. Weißt du noch, die, die du so ‚nett‘ fandest.“ Kester wurde rot. „Achja, stimmt. Wie hieß sie noch?“
„Keine Ahnung“
„Und welcher liebreizenden Dame hat dieses Stück gehört?“, fragte Kester.
„Norovara“, gab Nebb ausdruckslos zurück. Vor Schreck hätte sein Gegenüber den Ohrring beinahe fallen gelassen. „Bist du irre!?“, rief er entsetzt und wollte ihm das Stück zurückgeben, aber Nebb hob abwehrend die Hände. „Ich wollte ihr noch was viel Wertvolleres stehlen, schon vergessen?“, verteidigte sich Nebb. „Sie wird ihn nicht vermissen. Behalt ihn. Als eine Art Geschenk.“
„Ein Geschenk? Aus welchem Anlass?“ Kester hob skeptisch eine Braue, verstaute das Schmuckstück aber zwischen seinen Habseligkeiten.
„Als ein Abschiedsgeschenk“, antwortete Nebb. Kester mied seinen Blick, wirkte aber sonderlich überrascht. „Du gehst also doch“, stellte er mit einer Spur von Traurigkeit in der Stimme fest. „Ha, du kennst mich also doch“, gab Nebb zurück. Dann holte er weiter aus: „Ja. Ich gehe. Recht bald schon, ich dürfte jeden Augenblick abgeholt werden. Ich denke nicht, dass wir uns nochmal wiedersehen.“
„Das versteh ich nicht. Dann – hast du den Stein doch noch gefunden...?“ Nebb winkte ab. „Lass das mal meine Sorge sein. Sagen wir, es hat sich noch eine andere Möglichkeit ergeben, in die ewige Nacht hinauszuziehen und herauszufinden, was sie noch verbirgt.“
„Also das, was du immer wolltest...“, stellte Kester niedergeschlagen fest. Nebb nickte.
„Ich hab dich wirklich nicht verraten, Nebb. Ehrlich!“
Nebb überhörte Kesters Einwand: „Es gibt hier für mich nichts mehr, wofür es noch zu bleiben lohnt.“
Eine Familie hatte er, zumindest so weit er zurückdenken, nicht gehabt. Stattdessen war sein ständiger Begleiter, von Kindesbeinen an, sein Hunger gewesen. Er hatte sich irgendwann mit ihm abgefunden, auch wenn er ihn immer wieder Dinge tun ließ, an die er sich später nicht erinnerte und die ihm unter seinesgleichen den Ruf eines außerordentlich kaltblütigen Diebes beschert hatte. Ein Ruf, an dem sich zumindest Kester nie groß gestört hatte. Mit ihm hatte der tiefe Wunsch, die Finsternis zu durchwandern, Einzug in Nebbs Leben gehalten. Sich auf die Reise zu machen wie die Strahlen des Sonnensteins und nie wieder zurückzukehren – begleitet von der Furcht, vor Dunkelheit und Kälte erste den Verstand und dann sich selbst zu verlieren.
„Du glaubst mir doch, Nebb. Oder?“ Nebb wiederholte seine Antwort: „Es gibt hier nichts, wofür es zu bleiben lohnt. Nichts - und niemanden.“
In diesem Moment flog die Tür auf, so heftig, dass sie gegen die Steinwand schlug und sich ein tiefer Riss im spröden Holz bildete. Toriphor betrat wutschnaubend den Raum. „Hier steckst du also!“
Nebb hob unschuldig die Hände und rief: „Gefunden! Das nächste Mal bin ich mit suchen dran.“ Toriphor ließ seine Knöchel knacken. „Jaja, sehr lustig. Wer ist überhaupt der Kerl da?“ wurde der Schlächter auf einmal auf Kester aufmerksam. Der war bis zur der Tür gegenüberliegenden Seite zurückgewichen und schaute angsterfüllt zu Toriphor auf. Dem Blick nach hatte er erkannt, wer vor ihm stand.
„Das ist – niemand“, beantwortete Nebb seine Frage. „Schön. Bronco hat gemeint, er hätte da noch wen gefunden. Du weißt schon wofür. Ich muss aber noch was erledigen. Also kümmer‘ du dich drum.“
„Für dich immer, Tori!“ Nebb deutete eine Verbeugung an und der Schlächter kniff die Augen zusammen. „Aber wenn ich dich doch nochmal irgendwo anders rumstreunen seh‘, vergess‘ ich mein... Versprechen gegenüber Norovara. Verstanden?“
„Laut und deutlich!“ Unter Kesters ratlosen und furchtvollen Blickt trat der Schlächter zurück auf den Flur hinaus. Nebb folgte ihm. Aber zu Kester drehte er sich nicht mehr um.