Würde man ihn nach einer frühesten Erinnerung fragen, so würde er sagen: „Das war der Morgen, an dem mein Vater starb.“ Er sah es lebhaft vor sich, als sei es gerade geschehen; er hatte sich auf dem Weg zurück zu Palast befunden, als Geräusche vom Hügel zu ihm herüber drangen. Da hielt er inne und wunderte sich – wohl, weil Hinrichtungen sonst offen stattfanden –, dann bezwang seine Neugier seine nagende Angst und er machte sich hinauf. Seine Beine mussten gezittert haben, da war er sich ganz sicher.
Sie standen zu dritt auf dem Hügel: Er, ein Mitglied der Garde mit unendlich vielen Waffen und sein Vater – und für einen Moment trafen sich ihre Blicke und er sah all dessen Leid, jene Mischung aus Müdigkeit, Stolz, Resignation und lähmender Angst, bis dieser sich abwandte. Hatten sich dabei seine Lippen bewegt, hatte er etwas geflüstert? In seiner Erinnerung erschienen die Worte: „Sieh’ nicht hin.“
Er war jedoch wie gelähmt. Da gab der Gardesoldat seinem Vater einen Stoß und dieser ließ es geschehen, er stürzte in die Tiefe und als er seine Erstarrung löste und zum Rand stürmte, wofür ihm der Soldat mit den vielen Waffen anschrie, konnte er außer der Finsternis nichts mehr erkennen, nur ein Schmatzen drang aus der Tiefe, doch vielleicht bildete er sich auch nur ein.
Er erinnerte sich noch genau, was ihm damals durch den Kopf ging. ‚Meine Mutter bringt mich um, vielleicht heute, vielleicht später, aber irgendwann bestimmt. Also…’ Dann wusste er nicht weiter. Was also sollte er tun? Was konnte er überhaupt tun? Irgendetwas? Nein. Seine Mutter war Feychoris und sie stand kurz vor ihrem großen Sieg gegen Gilde und Piraten. Er konnte nichts machen – und er erinnerte sich sehr genau an die Gedanken, die ihm durch den Kopf gingen, während er im jungen Tag zum Palast trottete: ‚Dinge geschehen, die man nicht ändern kann. Deshalb muss man sie hinnehmen.’
Er wusste, dass viele Untertanen Nechorias ihn um seine Kindheit beneideten und er konnte sie verstehen, wenn er ihre von Hunger und Arbeit ausgemergelten Körper sah, doch er musste zugleich bitter lachen. So sehr seine Mutter doch darüber reden mochte, wie viel er ihr bedeutete, sah er doch hinter ihre Tarnung: Sie mochte das Bild, sich um einen Thronfolger zu sorgen. Sie steckte ihn gerne im aufwändige Kleidchen, sie ließ ihn an Zeremonien teilnehmen, sie steuerte seine Handlungen, sie legte ihm Worte in den Mund… und er wusste, dass sie in ihm nichts weiter als eine Puppe in einem Puppenhaus sah und nur die Teile an ihm mochte, die einer Puppe glichen; den Rest von ihm verabscheute sie. Oft lag er nachts wach, starr vor Angst, dass sie herausgefunden haben könnte, dass ihr sein toter Körper weit besser dienen konnte als sein lebendiger, doch dort kam sie nie an. Stattdessen kam sie auf die Idee, mit dem Herrn ihres Geheimdienstes anzubandeln, und eine drückende Stille legte sich über sein Leben.
Vithros „Vito“ Kerstreiter war ein starker Mann mit brennendem Ehrgeiz, immenser innerer Wut und einer kaum verborgenen sadistischen Ader. Er ließ keinen Zweifel daran, dass er hier an die Macht kommen wollte und dabei entweder mit seiner Mutter einen besseren Thronfolger zeugen oder diese schlicht umbringen wollte – und keinen der beiden Fälle hätte der Junge überlebt. Nun musste er ertragen, dass dieser Meister der Schatten viel Zeit im Palast verbrachte und er konnte sich nicht entscheiden, was er mehr verabscheute: aus der Ferne von diesem schweigend angestarrt zu werden oder dessen betont falschen Anbiederungen beglückt zu werden. Manchmal wünschte er sich, seinen Stiefvater fragen zu können, welchen Tod er für ihn wohl beschlossen hätte, doch er traute sich nicht.
‚Dinge geschehen. Man muss sie hinnehmen.’
Nach dem Sieg stand seiner Mutter der Sinn nach Urlaub und sie kam – nach Absprache mit Vito, wie der Junge vermutete – auf eine brillante Idee: Der Kronprinz würde in der Zeit ihrer Abwesenheit zusehen, wie Vitos Vetter das Land verwaltete und derweil seine Ausbildung zum Priester beginnen. Schon als er auch nur davon hörte, stieg die Panik in ihm auf: Seine Mutter wollte ihm dem Gott Kheldator ausliefern, den sie seit Jahren bei jeder Gelegenheit und auf jede Weise demütigte? Dazu kamen die Geschichten, die er im Plauderton über sein kollabiertes und versunkenes einstiges Reich zum Besten gab und die selbst dem härtesten Agenten oder Gardenschläger die Farbe aus dem Gesicht trieb. Bis dahin lagen Stunden, die sich endlos dahinzuziehen schienen und während derer er wach im Bett lag, während die Gedanken auf ihn einpeitschten. Kheldator galt als so viel schlimmer als seine Mutter – und diese hatte erst die Freundin seines Vaters für diesen sterben lassen, anschließend ihr Versprechen gebrochen und beider Schädel als Armlehnenschmuck in ihren Thron eingebaut. Die innere Stimme, die zu ihm flüstere, klang erschreckend nüchtern: Er konnte sich entweder darauf einlassen und sich im besten Fall misshandeln, erniedrigen und vergewaltigen lassen oder er konnte sich umbringen. Er konnte nicht fliehen, denn jeder, der seine Mutter hasste, hasste auch ihn. Es gab nur eine Rettung: Wenn Samus sich erhob und Feychoris bezwang, konnte alles besser werden. Das tat sie nicht.
Er hatte den Dolch in der Hand, doch ein Gedanke klammerte sich an ihn: ‚Es gibt hässliche Dinge, die lassen sich nicht ändern. Man muss sie hinnehmen.’
Nie erlebte der seine Mutter so wütend wie in dem Moment, in dem er sich – lange nach ihrem viel zu langen Urlaub – dazu überwand, sie auf seine Erlebnisse anzusprechen. Ihre Augen schienen förmlich Feuer zu fangen, sie schrie und ergriff gerne das von einem grinsenden Vito eilig gereichte Zepter, um es in seine Richtung zu wirbeln. „Wie kannst du es wagen?“, fuhr sie ihn an. „Willst du etwa alles, was ich für dich tat, kaputtmachen, indem du Lügen erzählst? Du undankbarer Wurm! Du verwöhntes Balg! Musst du immer gleich heulen, wenn es mal nicht um dich geht? Kommt da vielleicht mal die Einsicht oder was muss ich noch tun, damit das endlich in deinen dummen Schädel reingeht? Arrgh, ich hätte nicht übel Lust, dich aufzuschlitzen und dann zu grillen und dann zu verspeisen. Vito!“
Der Junge stand nur bleich da und ließ es geschehen. Ihr Blick zerfetzte ihn förmlich und während sich der Moment dahin zog, wurde ihm nur zu deutlich offenbar, dass ihrem Thron noch ein Fußschemel fehlte. Sie sagte jedoch: „Hilf doch mal mit bei seiner Erziehung.“
Er erinnerte sich nicht mehr, was dann geschah, nur noch daran, dass es ihm nach seinen Erfahrungen mit Kheldator fast schon liebevoll vorkam und bei Dämmerung vorbei war. Dann hätte er in den Wassertempel zurückkehren sollen, doch er konnte sich nicht lösen vom Ort seiner Kindheit und da er nie ein eigenes Zimmer besaß und meist auf den Bänken im Garten geschlafen hatte, weckte der Ort doch ein sehnsüchtiges Gefühl von früher. So streifte er durch leere und nachtdunkle Gänge, bis er mit einem Mal auf eine junge Frau traf, deren blonde Haare im Mondlicht zu schimmern schienen und die sich genauso hilflos vortapste wie er. Er brauchte nur einen Blick in ihre Augen, um zu erkennen, was sie war: Sie war der Wildfang seiner Mutter, an dem sich diese bespaßte. Er erkannte das Leid, welches er sonst nur aus seinem Spiegelbild kannte, aber er sah auch etwas Anderes: Ihr Stolz war verletzt, doch nicht gebrochen. Er beneidete sie darum und bemitleidete sie zugleich.
Es benötigte besondere Umstände, um ihn von Kheldator zu erlösen, doch Monate später traten sie ein: Als ihre Invasion der Elfeninsel Viskenthar gescheitert war, hätte seine Mutter schon erkennen müssen, dass sie ihren Marschall, den sie selbst niedergestochen hatte, nicht so einfach ersetzen konnte. Der Überfall auf die Stadt Taizinn, bei dem die unbekannten Angreifer eine Stadt voller Kadaver zurückließen, ließ das Reich rumoren und als dann auch noch große Elfenheere die Stadt Sadravis belagerten, stand Feychoris unter Zugzwang: Ihre Macht fußte auf ihrer Göttlichkeit und der Unbesiegbarkeit ihrer Armeen, beides durfte sie nicht aufs Spiel setzen. So ließ sie den glücklosen Anführer vierteilen und übertrug anschließend einen geteilten Oberbefehl an ihren Bruder, der an der Spitze der Truppen aus Nechoria zog, und an ihren Gefährten, der nun förmlich in Arbeit ertrank. Für einen kurzen Moment atmete der Prinz auf und konnte gar nicht fassen, wie viel Glück er hatte. Dann folgte postwendend die Erkenntnis: ‚Dinge mochten sich ändern, doch sie blieben gleich. Man musste sie ertragen.’
Nun schlug die große Stunde der Bardin Luna. Wie bei so vielen seiner Halbgeschwister kannte er sie zuvor nur aus flüchtigen Gesprächen und aus den Geschichten, die er hörte und die er mit großem Interesse in sich aufsog. So wusste er von ihr, dass sie nach dem Mord an ihrer Mutter und seinem Vater plötzlich in Nechoria auftauchte, um Rache zu üben, ehe sie sich in den Marschall verliebte, ihr Messer vergrub, das Leben zu schätzen lernte und eine Familie gründete. Dann jedoch brachte Feychoris auch ihren Marschall um und alles, was in Luna gut und richtig war, zerbrach. Nun warf sie sich in Vitos Bett – trotz all der Dinge, die dieser ihr zuvor antat – und in dieser Zeit von Feychoris’ Apathie und Vitos Überarbeitung wurde sie dadurch zur mächtigsten Frau in der Stadt. Sie lebte nur noch im Rausch von Leid und Zerstörung und sie machte kein Geheimnis daraus, dass sie sich und anderen alles antun würde, um Feychoris zu vernichten – und dass sie mit deren Sohn beginnen würde.
Der Anfang ihres Terrors fand er unangenehm, aber nicht wirklich erschreckend: Sie folgte ihm auf Schritt und Tritt. Sie beobachtete ihn. Sie spielte demonstrativ mit ihrem Messer. Sie schnitzte Puppen, die sie nach ihm kleidete und dann vernichtete. Sie sang Lieder über seine Folter und seinen Tod. Sie ließ ihn nicht schlafen. Sie verbreitete Gerüchte. Sie warf Steine. Und sie grinste, mal falsch, mal breit, immer hässlich.
Eines Nachts, als er plötzlich erwachte, saß sie neben ihm auf der Bettkante, streichelte sein Haar und führte Selbstgespräche über die Frage, wie lang eine Klinge wohl sein müsste, wenn sie vom Auge bis tief ins Gehirn reichen sollte. Erst wusste er nicht, ob er noch träumte, dann kämpfte er mit der Panik, während er versuchte, sich schlafend zu stellen, wusste er doch nicht, was sie sonst tun würde. So erlebte er, dass sie irgendwann den Faden verlor und nur noch wirr vor sich hin murmelte. Es drang an sein Ohr: „Ich steche den ab. Ich steche dich ab. Es wird alles wieder gut. Mein Schatz, es wird alles wieder gut. Einmal das Mütterchen, einmal das Väterchen, einmal das Brüderchen, einmal das Schwesterchen, dann ist es vorbei. Hab dich lieb. Halte durch. Ich steche ihn ab und alles wird wieder gut.“
Er war sich hinterher sicher, dass sie mit den Tränen gekämpft hatte, doch er wusste auch etwas anderes: Hier ging es weder um ein Spiel noch um einen Befehl noch um eine Liste. Das war etwas hässlich Persönliches.
Diese Nacht schien sie beide verändert zu haben. Obgleich er meinte, dass Luna nichts bemerkt haben sollte, ließ sie von nun an die Kinderspielchen wie Lieder und Krach und ging zu hässlichen Sachen über. Sie ließ sein Essen vergiften und als es ihr einmal gelang, da ließ sie das Gegengift durch Wasser auftauchen. Dann wurden Schreiber des Palasts tot aufgefunden und obgleich sie von Lautensaiten erwürgt wurden, übernahm Luna das Kommando über die Ermittlungen, ließ ihn verhaften und folterte ihn. Schließlich erwirkte sie sein Geständnis sowie Todesurteil und hätte seine Mutter nicht das Papier verlegt, wäre es um ihn geschehen gewesen. So blieb er, nachdem ihn eine überaus zärtliche Luna zum Abschied auf die Stirn küsste, am Leben und auf freiem Fuß.
Derweil fragte er sich, während er in seinem leeren Tempel saß (Kheldator hatte zwar die Elfen in einer Schlacht dazu gebracht, die Belagerung aufzugeben, doch er verblieb bei der Truppe im Feld), was er nun jetzt tun sollte. Er war gefangen von einer Mauer des Schweigens und selbst sein Halbbruder Torja, der sich gerne im Tempel sehen ließ, seitdem er das Gewerbe seines Vaters übernommen hatte und Waffen an die Armee verkaufte, wollte nichts mit ihm zu tun haben. Er erkannte aber, dass sich auch dieser vor Luna fürchtete.
Eines Tages erfuhr er, als er sich heraus in die Kneipe wagte, eine weitere Geschichte: Es hieß, dass Vito Lunas Hilfe erst abgelehnt habe, doch das hatte sie nicht hören wollen. Dann habe er halb im Scherz von ihr gefordert, als Zeichen ihrer Entschlossenheit ihre Kinder umzubringen, und es habe ihn schockiert, als sie diese zu sich holte und vor seinen Augen mit den Seiten ihrer Laute erdrosselte.
Diese Geschichte ließ ihn nicht los, als er die Taverne verließ und in einer mondlosen Nacht den Weg zum Tempel suchte. Es war kühl und unwillkürlich sah er zum Hügel hinauf, wo damals sein Leid seinen Anfang nahm. Diesmal dröhnten jedoch weder Stiefel noch Ketten, doch er sah eine weiße Gestalt, die dort oben stand und schluchzte. Wieder folgten seine Füße ihrem eigenen Willen und er trat auf den Hügel, bis die Gestalt ihn vernahm und sich zu ihm umwandte. Da schlug seine Angst mit voller Wucht zu: Wie hatte er Luna nur nicht erkannt? Sie hingegen handelte instinktiv: Mit dem Messer in der Hand stürmte sie zu ihm und stach zu.
Was dann geschah, fehlte in seinem Gedächtnis. Er erinnerte sich nur noch daran, dass er auf einmal blutend vor der Tür der Schamanin Miko stand. Sie rang mit sich, das sah er, doch nach einem endlosen Moment sagte sie nur: „Ich habe jetzt geschlossen, tut mir leid. Komme morgen wieder.“
Er schaffte es nicht nach Hause. Irgendwann ging er zu Boden und er kämpfte mit dem Schlaf, als plötzlich blonde Haare in sein Gesichtsfeld traten. „Trink das“, musste sie murmeln und irgendetwas tun, „und sage niemandem, dass ich es war.“ Dann seufzte sie und schob ihre Haare fort – und da erkannte er sie. Es war Tadewi, von der es hieß, dass sie sich an den Krug klammerte, seit Samus sie verlassen hatte. Nun murmelte sie: „Aber du musst verschwinden, hier werden bald die Messer lang. Du musst…“
Er wusste nicht, ob sie lange nachdachte oder auf seine Antwort wartete. Er versuchte zu sprechen, aber es kam nichts dabei heraus.
„Ein Boot bringt dich nach Arlonia. Dort wartet meine Schwester. Sie wird dich aufnehmen. Hoffe ich. Denke ich. Nein, wird sie, versprochen…“ Sie wusste sicher selbst nicht, ob sie lachte oder weinte. Der Prinz spürte nur, dass ihm der Trank langsam neue Kraft verlieh.
„Ich muss euch doch alle beschützen. Das schaffe ich auch. Irgendwie.“
‚Dinge waren, wie sie waren’, dachte sich Prinz Gnos, ‚aber manchmal ändern sie sich.’
So sah er als Kind aus...
... und so kommt er in Arlonia an.
Gnos ist berechtigt/einsam/schlaflos.