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Als ich letzten Freitag Abend zu Bett ging, fiel mein Blick auf den Bücherhaufen, der sich auf meinem Nachttisch stapelt.
Ganz oben lag der Perscheid Kalender 2022.
Meine Magengegend verkrampfte sich und mir stiegen Tränen in die Augen. Ich hatte einige Stunden zuvor den Anruf bekommen, dass Martin ins Krankenhaus gekommen und nicht mehr ansprechbar sei. Man sprach von wenigen Stunden, die er noch hätte.
Martin kämpfte lange gegen eine schwere Krankheit, das letzte Jahr war ein zermürbender Wechsel zwischen Hoffen und Bangen.
Insofern kam der Anruf nicht überraschend, aber erst der Anblick des Kalenders des nächsten Jahres führte dazu, dass ich richtig realisierte, dass ich Martin nie wieder sehen würde. Martin 2022 nicht erleben würde.
Meine Gedanken kreisten um Martin und ich konnte nicht schlafen. Ich hatte Angst aufs Handy zu sehen, weil jeden Moment mit der Nachricht zu rechnen war, die die schreckliche Gewissheit bringt.
Am nächsten Morgen kam sie. Martin war in der Nacht zu Samstag verstorben.
Martin war mein Vorbild, Mentor und vor allem Freund.
Als ich als Jugendlicher anfing, mich mit Cartoons zu beschäftigen und selbst zu zeichnen, stieß ich schnell auf Perscheids Abgründe. Seine Cartoons lösten eine ungeheure Faszination bei mir aus. Sie hatten alles, was ich als perfekten Cartoon bezeichnen würde. Ich war früh Fan und versuchte mir vorzustellen, was für ein Typ dieser Martin Perscheid wohl sei.
Bis ich das herausfinden durfte, vergingen etliche Jahre, in denen mich Martins Arbeiten begleiteten.
Ich selbst veröffentlichte bereits bei Zeitungen und Magazinen, als ich 2009 zum ersten Mal bei der Sommerakademie der Caricatura in Kassel teilnehmen durfte. Dozent war in diesem Jahr das Duo Rattelschneck. Was mich aber viel mehr beschäftigte, war die Tatsache, dass Martin Perscheid als Tagesdozent angekündigt war.
Ich hatte also endlich die Möglichkeit, mein Idol kennenzulernen.
Fragen zu stellen und zu lernen.
Ich war tierisch aufgeregt und malte mir aus, wie er von seinem Fahrer in einer Limousine gebracht und von Security abgeschirmt in einen Hinterzimmer der Caricatura geführt würde.
Was man eben so denkt, als man noch glaubte, dass man durch Cartoons reich würde.
Die Realität sah dann weitaus weniger spektakulär aus. Womit jetzt nicht sein alter Saab gemeint ist, der Jahre später dafür sorgte, dass ich auf der Frankfurter Buchmesse mein Auto im Parkhaus wieder fand. Das ist eine andere Geschichte. Nein, die Begegnung war intensiv und persönlich.
Martin stellte sich als introvertierter, sehr höflicher Typ heraus, der sehr bescheiden damit umging und irgendwie gar nicht realisiert hatte, dass er so viel Einfluss auf andere Cartoonzeichner:innen hatte und vor allem eine riesige Fanbase besaß.
Nach dem Workshop-Tag mit Martin als Dozent begann der gemütliche Teil bis spät in die Nacht mit lockerem Beisammensitzen, Gesprächen und dem ein oder anderen Bier im Innenhof der Caricatura.
Aus diesem Abend entwickelte sich eine Freundschaft, bei der ich nach und nach merkte, dass Martin mich und meine Arbeiten auch sehr mochte, was für mich völlig surreal war.
So richtig realisierte ich das erst, als er für mein zweites Buch bei Lappan nicht nur unbedingt den Rückseitentext schreiben wollte, sondern explizit ein Original von einem Cartoon aus diesem Buch haben wollte, von dem er sich persönlich angesprochen fühlte.
Wie geehrt ich mich fühlte!
So ließ er es sich auch ein paar Jahre später nicht nehmen, mir eine besondere Nachricht zu überbringen. Wir saßen an genau dem Ort unseres Kennenlernens, im Innenhof der Caricatura auf Bierbänken und warteten auf die Ausstellungseröffnung einer Gemeinschaftsausstellung.
Völlig beiläufig sagte Martin Sonntag, der Leiter der Caricatura, dass sie ein ernste Sache mit mir zu besprechen haben: Ich dürfe nicht mehr als Student an der jährlichen Sommerakademie teilnehmen.
Ich schluckte.
Martin Perscheid musste irgendwann grinsen und sagte, dass das ja deshalb nicht mehr ginge, weil ich ja jetzt eine Einzelausstellung in der Caricatura bekäme.
Ich war baff.
Martin umarmte mich und sagte, dass er stolz auf mich sei.
Man muss erwähnen, dass es ein Höhepunkt im Leben eines Cartoonzeichners ist, in der Caricatura ausgestellt zu werden. Für mich war das zu dem Zeitpunkt völlig überraschend und fern jeder Vorstellungskraft, da ich doch gerade ein paar Monate zuvor noch bei Martins Ausstellung war, die zur Feier seines fünfzigsten Geburtstags veranstaltet wurde.
Dieser Moment wird für mich immer mit Martin Perscheid verbunden bleiben. Nie werde ich das Leuchten in seinen Augen vergessen, die schelmische Freude, mich erst verarscht zu haben und dann seine aufrichtige Anteilnahme, wie er mir mein Glück gönnte.
Im Laufe der Zeit machten Martin und ich einige Bücher zusammen, was auch dazu führte, dass ich ihn immer öfter überredete, zu Veranstaltungen mitzukommen. Signiertermine, gemeinsame Zeichnerworkshops, Messen oder Ausstellungen, die ich organisierte. Martin taute langsam aber sicher auf, hatte er doch vorher eher zurückgezogen an seinem Zeichentisch gearbeitet und die Öffentlichkeit gemieden.
Er genoss es immer mehr, sich mit Kollegen und Kolleginnen zu treffen. Oft war er zum Beispiel bei meiner Ausstellungsreihe Cartoons im Pott der Letzte, der ging. Das, obwohl er von Herten nach Wesseling noch eine ordentliche Strecke vor sich hatte.
Zeitgleich entdeckte er auch Facebook für sich und übernahm die Kontrolle über seine Facebookseite, die zwar schon länger existierte, aber nicht von ihm bespielt wurde. Hier freute er sich über die Möglichkeiten, dass er direkt Feedback und Reaktionen auf seine Arbeiten bekam.
Sein Auftauen hieß aber nicht, dass er besonders viel redete. Umso eindrücklicher waren dann seine Sprüche und Witze, die er meistens mit einem Ellbogenstubser in die Seite mit ruhiger und leiser Stimme raushaute. Meist konnte man vorher an einem Leuchten in seinen Augen sehen, dass sich wieder etwas ein seinem Kopf zusammengebraut hatte, was raus musste.
Überhaupt nahm er kein Blatt vor dem Mund und ihm war auch egal, was andere über ihn dachten. Ich weiß noch, wie wir in einer eher geschäftlichen Situation und Gesellschaft essen waren und er sich auf einmal erhob, den Stuhl an den Tisch schob und verkündete: „Ich geh mal eben kacken.“
Der Abend war für mich gelaufen, mit Mühe und Not musste ich den Rest der Zeit mein Kichern unterdrücken.
Als Martin zum ersten mal bei mir zu Besuch war, begrüßte ihn direkt im Flur meine damalige Katze. Ohne zu zögern sprach Martin sie an und sagte: „Du bist ja eine ganz besonders hässliches Exemplar von Katze.“
Man sieht, selbst Katzen waren nicht vor ihm sicher.
Wie sehr ich mir wünschte, dass Martin noch meinen sechs Monate alten Sohn hätte kennenlernen können. Auf seinen Kommentar wäre ich jedenfalls sehr gespannt gewesen.
Das Besondere an Martin war, dass man ihm dabei nie böse sein konnte. Er nahm sich ja auch bei Cartoons nie zurück.
Er war kein Fan großer Worte und ließ grundsätzlich seine Zeichnungen sprechen. Insofern war Martin hoch demokratisch, da wirklich jeder sein Fett wegbekam. Selbst unsere Kollegen und Kolleginnen waren vor seinem Spott nicht sicher.
Bei einem Signiertermin nahm er sich in seinen Skizzen einmal einen ganzen Tag die Schönheits-OP eines Kollegen zur Brust und hatte eine diebische Freude, mir die Zeichnung mit einem Pssst! zuzuschieben und auf meine Reaktion zu warten.
Egal, ob es um die Geburtskanäle von Mutti-Influencerinnen bei YouTube ging, aktuelle politische Ereignisse, Trash-TV oder gar meinen ersten Shitstorm: Martin war stets bestens informiert und zeichnete dazu zeitlose Schönheiten von Cartoons.
Immer auf den Punkt, oft lustig, aber noch viel öfter humoristische Meisterwerke in Din A4.
So kompromisslos Martins Humor und seine Cartoons waren, so kompromisslos war er auch mit sich selbst. Wer ihn kennt, weiß, dass er sich in zahlreichen Cartoons mit persönlichsten Belangen selbst thematisierte. Und das nie zum eigenen Vorteil. Genauso kompromisslos war er mit seiner eigenen Gesundheit und dem Umgang damit in der Öffentlichkeit, was man an seinem letzten Posting mit der Maske sehen kann.
Das ist aber nicht das, womit man man Martin in Erinnerung halten sollte. Wenn es nach ihm gegangen wäre, wäre ein Posting über seine Erkrankung nicht das Letzte gewesen, was man von ihm gesehen hätte.
Mit einer unglaublichen Pointe, einem überragendem Cartoon hätte er sich verabschiedet, wenn er denn gekonnt hätte.
Mit seinem wachen Geist und Witz, mit dem er uns sein Leben lang beschenkt hat.
Sein Lebenswerk bleibt, Martin als mein Freund wird für immer in meinem Herzen bleiben.