Was ist konservativ?
Am Anfang ist Verwirrung. „ In welchem Sinne, und in Bezug worauf sind sie konservativ?“ , fragte Lord Shaftesbury 1858 die englischen Konservativen. „Ein Konservativer hat die Bibel, Goethe und ein Sparbuch. Der Liberale, der zieht sich noch bunte Krawatten an und tanzt auf Gartenfesten und zeigt, dass er irgendwie offen ist.“.
Auch der Definitionsversuch des deutschen Late-Night-Talkers Harald Schmidt beinahe anderthalb Jahrhunderte später schafft keine wirkliche Klarheit, wenn er beschreibt, was für ihn konservativ bedeutet: „Ein klares Wertesystem, ein Misstrauen allem Neuen gegenüber – und den Satz „früher war alles besser“ sage ich nur deshalb nicht, weil ich weiß, dass man dadurch so alt wirkt.“
Im allgemeinen Sprachgebrauch ist „konservativ“ ein Synonym für (vermeintlich) bewahrend, traditionell, defensiv oder auch rückwärtsgewandt – von Familienpolitik und Sexualmoral bis zu Geldanlage und Kleidung. Hat „wertkonservativ“ noch einen zaghaft positiven Beigeschmack, so gilt „strukturkonservativ“ als verbale Höchststrafe für jedwede Betonfraktionen – seien es die Gewerkschaften im Hinblick auf die Reform des Sozialstaates in Deutschland, seien es orthodoxe Kommunisten in Osteuropa. Gewerkschaften und Kommunisten als Konservative? Ein zweiter Gedanke entlarvt solche Begrifflichkeit als absurd. „Bewahrung“ allein ist als gemeinsamer Nenner für uns „Konservatismus“, wenn es sich nicht um einen völlig sinnentleerten Begriff handeln soll, offenkundig nicht ausreichend. Auch in der Politikwissenschaft herrscht keine Klarheit: Ist Konservatismus erstens ein historisches und somit abgeschlossenes Problem, insbesondere des 19. Jahrhunderts, oder gar der frühen Neuzeit oder ist Konservatismus etwas Überzeitliches? Und ist er zweitens eine Denkform oder bestimmt er sich durch Inhalte? „Zu viele Geister haben aus zu vielen Gründen versucht, zu viele Dinge zu bewahren“ (John Pocock), als dass sich von einer geschlossenen Ideologie reden ließe. Aber den Konservatismus allein als Denkform des Bewahrens betrachtet, führt erneut zum Dilemma der konservativen Kommunisten. Und was die Frage der zeitlichen Verortung angeht: Zu oft ist bis heute von Konservatismus die Rede, als dass er einfach als längst vergangene Erscheinung gelten könnte. Wenn er aber ein überzeitliches Phänomen ist – wie dann all die vielen Dinge der vielen Geister unter einen Hut bringen?
Die Geburt des Konservatismus: Versuchen wir es mit der Geschichte: Sei dem frühen 19. Jahrhunderts ist in Europa vom „Konservatismus“ die Rede, immer gebunden an das lateinische „bewahren“. Konservatismus war von Anfang an eine Bewegung gegen den modernen Wandel. Sie richtete sich vor allem gegen die Aufklärungsphilosophie mit ihrem Rationalismus und ihrer Zielutopie der Emanzipation des vernünftigen Individuums sowie gegen den radikalen Liberalismus des 19. Jahrhunderts.
Das konservative Menschenbild gründet auf der Überzeugung von der unaufhebbar gemischten Natur des Menschen, seiner Unvollkommenheit in biologischer, in intellektueller und in moralischer Hinsicht. „Dünn ist die Kruste der Zivilisation“ wusste der ebenso realistische wie pessimistische dritte Marquess of Salisbury, „über der kochenden Lava menschlicher Leidenschaften.“ Die Nähe zur christlichen Anthropologie vom erlösungsbedürftigen Menschen ist unübersehbar. Dass der liberale, auf den Vernunftgebrauch des Einzelnen gestützte Individualismus vor diesem Hintergrund nicht Sache der Konservativen ist, versteht sich von Selbst. Überhaupt erteilt das konservative Menschenbild verschiedenartigen Liberalen oder auch sozialistischen Vorstellungen – etwa den Menschen zu vervollkommnen, gar einen „neuen Menschen“ gewinnen oder eine vollkommene menschliche Gesellschaft, einen historischen Endzustand herstellen zu können – eine grundsätzliche Absage. Auch die Idee der sozialen Gleichheit aller Menschen wird abgelehnt. Keine zukunftsoptimistische Utopie, sondern eine auf Erfahrung gestützte Skepsis ist die Sache der Konservativen.
Die konservative Denkweise: Wenn der Mensch intellektuell unvollkommen ist, dann ist er – so die konservative Grundannahme – auch nicht in der Lage, die Welt vollständig zu erkennen. Daher steht der Konservatismus dem liberalen Vernunftoptimismus und dem Rationalismus von Grund auf skeptisch gegenüber. „ Gefühl und Erfahrung lehren uns“ so Austen Chamberlain 1924 vor dem englischen Unterhaus, „dass die menschliche Natur nicht logisch ist, und dass durch den weisen Verzicht darauf Dinge bis an ihr logisches Ende zu treiben, der Weg der friedlichen Entwicklung zu finden ist.“ Nicht strikte Logik und Rationalismus also, sondern Erfahrung, nicht Theorie, sondern Pragmatismus, nicht das Abstrakte, sondern das Konkrete prägen das konservative Denken. Und das bedeutet nicht zuletzt, das bewährte Vorhandene zu schätzen und nicht voreilig dem unbekannten Möglichen zu opfern. Fortschrittsskepsis ist einer solchen Haltung eingeschrieben. Konservative bauen darauf, dass sich gesellschaftliche Traditionen bewährt haben und Bedenken gegen die Modernisierung im Grundsatz berechtigt sind.
Dass die Zivilgesellschaft ein großes Dach ist, unter dem sich mancherlei sehr Unterschiedliches versammelt hat, ist keineswegs neu. Schon im 18. und 19. Jahrhundert war beispielsweise eine sozialamoralisch qualifizierte Zivilgesellschaft ein zentrales ideologisches Merkmal des englischen Radikalliberalismus, aber auch des englischen Konservatismus. Darin steckt einerseits eine eigentümliche – und bis heut zu beobachtende – teilweise Seelenverwandtschaft zwischen Konservatismus und dem ansonsten so bekämpften Radikalismus. Anderseits bezog sich die Zivilgesellschaft auf unterschiedliche Größen: Zielte die liberale Zivilgesellschaft auf das Individuum und allgemeinen Gleichheit, so ging es den Konservativen um das althergebrachte Gemeinwesen – se es der ländliche Verband des adligen Landbesitzers und seiner Untergebenen, sei es die Familie. Jedenfalls richtet sich die Idee der Zivilgesellschaft gegen die Fixierung auf einen allzuständigen Staat in den Formen des bürokarischen Macht- und Obrigkeitsstaates oder auch des umfassenden sozialen Fürsorgestaates. Darin unterscheidet sich der Konservatismus deutlich vom Sozialismus und der Sozialdemokratie, obwohl er sich mit beiden in der kritischen Analyse des frühen Kapitalismus durchaus berührte. Jedoch konzentrierte sich der Konservatismus statt auf staatliche Umverteilung viel stärker auf Subsidiarität – also das Prinzip, eine größere gesellschaftliche Einheit nur dann zur Erfüllung einer gesellschaftlichen Funktion heranzuziehen, wenn sie von der kleineren Einheit nicht geleistet werden kann. So war es auch kein Zufall, wenn sich konservatives Gedankengut mit der katholischen Soziallehre verband.
Historische Entwicklungen: Konservatismus und Konservative entwickelten sich im 19. und mehr noch im 20. Jahrhundert in einzelnen Ländern, im Hinblick auf politische Inhalte sowie auf politisch-soziale Träger und Organisationen sehr unterschiedlich. In England, dem Mutterland der industriellen Moderne und des parteipolitisch organisierten Konservatismus, waren die Konservativen seit jeher parlamentarisch organisiert. Der zunächst recht exklusive aristokratischen Club öffnete sich im Laufe des 19. Jahrhunderts für die neuen industriellen Mittelschichten und schließlich auch für die Arbeiterschaft. Im 20. Jahrhundert waren die Tories dann auch dezidiert sozialapolitisch ausgerichtet, ehe Margret Thatcher, die „Eiserne Lady“, in der zweiten Hälfte der 70er Jahre eine betonst marktradikale Wende einleitete. In Preußen dagegen waren Konservative demgegenüber antiparlamentarische Verfechter der monarichischen Exekutiven der verschiedenen Vorrechte der adligen Oberschicht. Dieser Traditionsbestand prägte auch die konservative Deutschnationale Volkspartei in der Weimarer Republik; sie war ebenso antirepublikanisch wie eine neue, intellektuelle konservative bewegjung, die in unter dem Etikett der „konservativen Revolution“ auftrat. All dies ging in Nationalsozialismus und Zweitem Weltkrieg unter und gewann in Deutschland auch keinen gestaltenden politischen Einfluss mehr. Vielmehr gingen zentrale konservative Bestandteile auf die beiden neu gegründeten Unionsparteien über und verbanden sich zu einem christlich-sozialen Konservatismus, der zum einen die Demokratie und zum anderen die Marktwirtschaft anerkannte. Seit seinen Anfängen im 19. Jahrhundert hatten Konservative elementare geistig-kulturelle und moralische Vorbehalte gegen den marktlibereralen Industriekapitalismus gehegt, auch wenn sie ihn politisch kam bekämpften. In Verbindung mit der katholischen Soziallehre wurde er nun durch korrigierende Umverteilung und nach Maßgabe der Subsidiarität durch die „soziale Marktwirtschaft“ gemildert. Dass daraus im Lauf der Jahrzehnte ein allzuständiger sozial-interventionistischer und heute nicht mehr finanzierbarer Wohlfahrtsstaat hervorgegangen ist, stellt unterdessen das Zerrbild einer Idee dar, die darüber ihrerseits in Vergessenheit geraten ist: Von „sozialer Marktwirtschaft“ ist in Deutschland kaum mehr die Rede – daher verfügt dieses recht verstandene christlich-konservative Konzept mit seiner Verbindung von freiem Markt und gesellschaftlicher Solidarität gerade heute, in schwierigen Zeiten, als sozialethisches Leitbild durchaus über erhebliche Potentiale.
Substanz und Potentiale: Trotz vieler bis ins Gegensätzliche reichender Unterschiede zwischen Konservativsten und Konservatismen im Einzelnen verfügt der Konservatismus doch über eine identifizierbare gemeinsame Substanz und allgemeine Wesensmerkmale: Das skeptische Menschenbild, die erfahrungsgeleitet pragmatische Denkform sowie die sozialmoralisch qualifizierte Zivilgesellschaft. Demzufolge ist allerdings manches, was sich konservativ nennt, in Wirklichkeit gar nicht konservativ: Weder die „konservative Revolution“, die auf rationale Planung einer neuen Ordnung setzte, noch der marktradikale Thatcherismus und demzufolge auch nicht die individualistischen „Reagonomics“ sind im engeren Sinne konservativ. Ein brauchbarer Begriff des Konservatismus jenseits des antiquarischen oder Diffusen jedoch gründet auf einem skeptischen Menschenbild, einer anti-radikalen Denkweise um einer Idee der Zivilgesellschaft. In Zeiten manch kurzatmiger vermeintlicher „Modernisierungsaktionen“ hätte ein solcher Konservatismus einiges beizutragen zu den zentralen Debatten über die Probleme der Gegenwart in ganz Europa: Seien es die sozialen Sicherungssysteme, seien es Bildung und Wissenschaft, seien es der ökonomische Veränderungsdruck der Globalisierung. Das gebietet nicht nur seine große ideengeschichtliche Tradition.
Von: Andreas Rödder, Autor des Buches „die radikale Herausforderung“ Oldenbourg-Verlag München