Toriphor bahnte sich einen Weg durch die Menschenmenge. Wie ein Lauffeuer verbreitete sich die Kunde um den Vorfall in der Stadt und bald sah man die ersten Echsen eilig entlang der Ringstraßen patrouillieren. Als er fast beim Gasthaus angekommen war, ließ ihn plötzlich eine Stimme innehalten.
„Toriphor?“ Angriffslustig wirbelte er herum und packte eine der Spitzhacken fester. Doch es war nur Norayk, die an der Wand des ranzigen Gebäudes lehnte, mit einem geflochtenen Korb unter dem Arm. Ihre Finger trommelten gelangweilt dagegen und ein leises Summen drang darunter hervor. „Ja, verdammt. Wir müssen weg hier. Die Echsen haben Nebb!“
„Nein.“ Norayks Finger hielten inne und das Summen verstummte. Sie wirkte aber nicht sonderlich überrascht. „Wir müssen noch auf Felb warten. Wegen der Tunnel.“
„Hast du nicht gehört, Frau? Sie haben Nebb! Wir müssen weg hier, am besten raus aus der Stadt bevor der…“
„Nein“, entgegnete sie ruhig, aber energisch. „Erst warten wir auf Felb. Dann wollten wir die Tunnel suchen, schon vergessen?“ Zwischen Toriphors Augenbrauen entstand eine tiefe Zornesfalte.
„Hör mal, vielleicht bist du ja etwas schwer von Begriff, also nochmal langsam: Die. Echsen. Haben. Nebb. Der Plan hat sich erledigt!“ Nun war es an Norayk ihre Stirn in Falten zu legen. „Wir sollten ihn irgendwie befreien, eine Rettungsmission starten, irgendwie sowas!“, fuhr Toriphor aufgebracht fort. Die Schattenfrau lächelte nur süffisant.
„Oh. Ich vergaß, als wir dieses Detail besprochen haben, warst du ja damit beschäftigt, die Wirtin zu ertränken. Wenn Forfeaut recht hat, ist Nebb genau da, wo er hingehört. Jetzt müssen wir nur noch die Tunnel finden. Und die Käfer hochjagen.“ Sie rückte den Korb zurecht und das Summen begann von Neuem.
Toriphor erstarrte. Was hatte die Schattenfrau da gerade gesagt? Forfeaut? Nebb? Das verschmitzte Grinsen des Lichtdiebs tauchte vor seinem inneren Auge auf. Dieser verlogene Bastard! Sprachlos starrte Norayk an.
„Aber du hast recht. Wir müssen uns beeilen,“ sagte sie. „Da kommt Felb!“
Der Junge kam um eine Ecke gerannt und schien völlig aufgelöst. „Norayk! Sie haben Nebb!“
„Passt“, antworte sie ruhig. „Weißt du, wo die Tunnel sind?“ Der Bengel nickte. „Sehr gut.“
[...]
„Das habt ihr euch ja ganz toll ausgedacht. Wirklich großartig. Wenn ich diesen Typen das nächste Mal in die Finger kriege, bring ich ihn um!“ Toriphor schlug mit der verkrüppelten Faust in die hohle Hand, zwang sich aber, die Stimme zu senken, als in der ankreuzenden Gasse eine Echsenpatrouille zu sehen war. Nach dem Vorfall an der Statue wollte man den Menschen eindrucksvoll die Macht der Herrschenden vorführen und sogar in den zwielichtigen Ringen wimmelte es nun von den Viechern. Nur in die beiden äußeren Ringe wagten sie sich nicht vor - zu kalt.
Die Gruppe blieb stehen und wartete mit demütig gesenkten Köpfen, bis die beiden finster dreinblickenden Echsenkrieger mit gezogenen Waffen vorbeigegangen waren.
„Und diesen Lurch leg ich direkt daneben! Jede einzelne Schuppe reiße ich ihm vom Leib! Wie konntet ihr dieser Drecksechse überhaupt vertrauen?“, fuhr Toriphor anschließend mit seiner Wutrede fort.
„Vertraust du uns denn?“, unterbrach Norayk trocken. Sie hielt den Korb mit den Leuchtkäfern vor sich wie eine Magd, die auf dem Weg zum Markt war um ein paar staubige Knollen zu verkaufen. Die Spitzhacken und was sie sonst noch brauchen würden hatten sie im verwaisten Gasthaus in Forfeauts Bündel geschlagen, das der Schläger geschultert hatte. Der junge Lichtschmied ging neben der Schattenfrau her und musterte mit zusammengekniffenen Augen die Häuser, ließ seinen Blick immer wieder durch die Gassen schweifen. Mal schirmte er seinen Blick ab und schaute in Richtung Sonnenstein, dann wieder zurück. Schließlich hielt er vor einem kleinen, baufälligen Haus am Rand einer Knollenfarm.
„Hier ist es?“, fragte Toriphor. Er nahm das hässliche Gebäude in Augenschein. Es lag direkt an der Ringmauer zum siebten, an die es sich zu lehnen schien und wurde von einem windschiefen Schuppen flankiert.
Der Junge nickte. „Schaut euch die Mauer mal an.“ Er trat in den Schatten der Ringmauer und fuhr mit dem Zeigefinger die oberste Reihe von Steinen entlang. Toriphor kniff die Augen zusammen und folgte dem Finger. Die Steine waren unregelmäßig, aber wenn man den Blick ruhig hielt, konnte man sehen, wie die Mauer sich entlang des Hauses nach unten wellte.
„Vielleicht haben die, die diesen Haufen Schutt zusammengetragen haben, sich auch einfach nicht viel Mühe gegeben“, stellte der Schlächter fest. „Schaut euch die Bruchbuden doch mal an. Ganz zu schweigen von der, in der wir schlafen müssen.“
„Vertrau’ ihm“, meinte Norayk und drückte Felb wie um ihren Worten Nachdruck zu verliehen vorsichtig die Leuchtkäfer in die Hand. Anschließend nickte sie dem Jungen und Toriphor zu und schickte sich an, zu gehen. Der Schlächter zog eine Augenbraue hoch. „Sieh an, willst du dir keinen Fingernagel abbrechen oder was gibt das jetzt?“ Norayk winkte ab. „Es gibt da noch ein Versprechen, das ich einlösen möchte. Einer wie du wir das sicher verstehen, oder? Und überhaupt, ihr habt auch so zwei... ich meine, anderthalb gesunde Paar Hände“, konnte sich die Frau einen Seitenhieb nicht verkneifen. Der Schlächter mahlte mit seinen Kiefern, entgegnete aber nichts. Norayk zwinkerte ihm zum Abschied zu und eilte, nachdem sie sich vergewissert hatte, dass die Luft rein war, davon.
Der Junge warf ihr einen Blick hinterher und schaute sich dann ebenfalls nach Echsen um. „Ich glaube, der Zeitpunkt ist gerade günstig…“, wisperte er und trat auf die Tür zu. Aber Toriphors Rechte schnellte vor und hielt ihn unsanft am Handgelenk fest. Die Käfer fingen an, nervös zu summen. Der Schlächter funkelte den Jungen an.
„Schön. Aber diesmal machen wir es auf meine Art.“
[...]
„Zeitverschwendung.“ Toriphors Hemd war mit Dreck verschmiert und er wischte sich den Schweiß von der Stirn. Hinter den beiden Grabenden hatte sich eine beachtliche Menge Erde und Stein aufgetürmt. Zu ihrem Bedauern hatte nur die obere Schicht aus fester Erde bestanden, darunter war sie steinig, hart und kalt, was ihr Vorankommen deutlich erschwerte. Trotzdem hatten sie ununterbrochen geackert und nur kurz Pause gemacht, um eine Kleinigkeit zu essen. Knollen.
Zornig hob er die Hacke und zertrümmerte mit einem einzigen, kraftvollen Hieb einen kopfgroßen Kiesel. Der Hieb war so heftig, dass Toriphors Arme vibrierten und er die Hacke für einen Moment in den losen Erdhaufen stieß.
„Forfeaut hat gesagt, dass wir nur Zeit haben, bis der Schatten das nächste Mal zwischen den Echsenstatuen steht“, kommentierte Felb seine Pause leise. Der Junge war bis zum Kopf in dem Erdloch verschwunden. Toriphor verschränkte seine Arme. „Achja? Und wann soll das bitte sein?“
Felb kam umständlich hervorgeklettert und schüttelte sich Staub und Dreck aus dem Haar. Anschließend trat er an ein kleines Fenster und spähte hinaus. „Etwas Zeit haben wir noch. Aber wir sollten uns beeilen, immerhin müssen wir dann noch den Weg unter den Stein... – wah!“
Vor dem Fenster tauchte plötzlich ein großes, tiefliegendes, schwarzes und von zotteligem Fell umgebenes Auge auf und starrte ihn an. Felb stolperte überrascht zurück und hätte Toriphor ihn nicht am Kragen gepackt, wäre er rücklings zurück in das Loch gefallen. Der Schlächter ließ ihn los und riss die Tür auf, an der Norayk gerade ein Wollhorn vorbeiführte. Unter dem Fell des Tieres zeichneten sich kräftige Muskeln ab, das Tier war gewiss in der Lage, einen schweren Brocken zu schleifen, das musste der Schlächter anerkennen.
„Von der Farm“, kam sie seiner Frage zuvor, während sie es zwischen Schuppen und Mauer festband, sodass es nicht von der Gasse aus zu sehen war. Anschließend wollte sie das Haus betreten, aber Toriphor versperrte ihr den Weg. Die Schattenfrau warf einen flüchtigen Blick über seine Schulter, wo die Hausbesitzerin leise zu wimmern angefangen hatte. An Toriphor gewandt fuhr Norayk fort: „Nein, mir ist niemand gefolgt. Da draußen herrscht das reinste Chaos. Sind alle auf dem Weg zum Schlangenplatz, uns bleibt also wohl nicht mehr lange. Habt ihr die Tunnel schon gefunden?“ Toriphor grinste sie an. „Sagen wir, du kommst gerade rechtzeitig, um selbst danach…“
„Ich hab‘ hier was!“, rief Felb auf einmal. Er war wieder im Loch verschwunden. Toriphors Grinsen gefror. Er machte Norayk Platz und trat an den Rand der Grube, sodass Erdbrocken sich vom Schutthaufen lösten und den Abhang hinunterrollten. Eine kleine Lawine aus Stein und Dreck, die zwischen Felbs Beinen in einem kleinen, schwarzen Loch, verschwand: der Tunnel!
Seufzend befreite Toriphor seine eigene Hacke aus dem Erdhaufen und gesellte sich zu dem Jungen ins Loch. Sie stießen ihre Hacken in die Finsternis und zu zweit gelang es ihnen schnell, das Loch weit genug zu verbreitern, um die Tunnel zu betreten. Norayk entzündete eine Fackel und leuchtete in die Schwärze hinab.
„Sanasand“, sagte der Junge andächtig in die Stille des Tunnels. Das Licht seiner Fackel reichte nur wenige Schritt weit, aber der Tunnel war hoch genug, um aufrecht darin zu gehen.
„Sanawas?“ grummelte Toriphor.