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Thema: [Keines] - Dörnthal

  1. #1
    Geschichtsmeister Avatar von maxim_e
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    [Keines] - Dörnthal

    Das Civforum schreibt einen Roman - und ich bin ein Teil dieses tollen Projekts! Aber nicht nur das, ich schreibe auch selbst einen Roman! Tatsächlich ist das Projekt schon relativ weit, das "einzige" was noch fehlt ist das Schreiben des tatsächlichen Textes. Damit ich damit auch fortfahre und nicht mitten drin irgendwann stecken bleibe, weil ein anderes kreatives Projekt, ein Videospiel oder (Gott bewahre!) meine Arbeit meine Aufmerksamkeit stiehlt dieser Thread. Falls ich mal länger als eine Woche kein Update bringe, bitte ich um die allseits beliebten "-Posts".

    Ich hoffe meine kleine Geschichte wird euch gefallen.
    Cancel Culture ist ein Synonym für kritische Gesellschaft.
    Wokeness ist ein Synonym für Anstand.

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  2. #2
    Geschichtsmeister Avatar von maxim_e
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    Inhaltsverzeichnis

    Kommt noch
    Cancel Culture ist ein Synonym für kritische Gesellschaft.
    Wokeness ist ein Synonym für Anstand.

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  3. #3
    Geschichtsmeister Avatar von maxim_e
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    Kapitel 1

    Judith Tellerrand hielt sich die Hand vor das Gesicht als die Nachmittagssonne sie plötzlich blendete. Sie blickte von ihrem Essen auf und sah mit zugekniffenen Augen den Mann auf der Leiter an.
    „Stephan“, setzte sie an. Eigentlich wollte sie ihn darum bitten, herunter zu kommen, besann sich dann aber eines besseren. Sie wusste, dass das Kreuz, das er gerade putzte, dem Betreiber des Restaurants „Zum Himmel“ viel bedeutete. Als der dürre Mann mit der runden Brille zu ihr sah fuhr sie deshalb nur mit der Tirade fort, die sie einige Minuten vorher eigentlich schon beendet hatte.
    Stephan Augustin war so etwas wie die gute Seele von Dörnthal und man konnte ihm alles erzählen, ohne befürchten zu müssen, dass er es irgendwem weiter erzählte. Vor allem nicht der IHS, der über ihnen allen schwebenden International Human Society. Der IHS gehörte nicht nur die „Farm“, wie die Getreideproduktionsstätte, in der Judith Abteilungsleiterin war, in der Siedlung genannt wurde, sondern eigentlich alle Einrichtungen in Dörnthal. Sowohl die „Ranch“, eigentlich die Fleisch-Ersatzstoff-Fabrik Dörnthal, als auch der Supermarkt; alles gehörte der IHS. Auch das Restaurant „Zum Himmel“, in dem sie gerade aß, hatte Stephan Augustin nur von der IHS gemietet.
    Es sei eine Schweinerei, dass die IHS das Monatsziel schon wieder erhöht habe. Die letzte Erhöhung war gerade einmal vier Monate her und schon damals hatte die Fabrik am äußersten Maximum gearbeitet. Es sei vollkommen schleierhaft, wie die IHS erwarten konnte, dass sie noch mehr und noch schneller aus dem Saatgut holen konnten. Züchtung, Düngung, Bodenaufbereitung, Beleuchtung und Befruchtung waren in den letzten Jahrzehnten rasant weiter entwickelt worden und schon lange auch in kleinen Produktionsstätten wie Dörnthal angekommen. Aber auch so konnte man nicht alles erreichen.
    Eine Ertragssteigerung von weiteren 1,4% war einfach utopisch. Judith wusste das. Und Stephan wusste das spätestens jetzt, wo die Frau mit der Bob-Frisur ihm lang und breit davon erzählt hatte, auch.
    Er hatte es aber auch schon vorher geahnt. Der Restaurantbetreiber, Koch und Kellner hatte selbst genug zu leiden unter den Forderungen der IHS. Er musste einen hohen Preis zahlen um den „Himmel“ überhaupt in Dörnthal betreiben zu dürfen. Weil das Restaurant der IHS gehörte, durfte er auch nur von lizenzierten IHS-Großhändlern Waren kaufen. Nicht, dass es ansonsten noch viel Auswahl gegeben hätte, aber das bedeutete einfach, dass die Großhändler ihre Preise selbst bestimmen konnten. Da das Gebäude außerdem nicht unwesentlich kostete und in der Siedlung allgemein das Geld nicht mehr so locker saß wie vor einigen Jahren noch, war das Restaurant für ihn seit langem ein Minusgeschäft.
    Trotz der roten Zahlen blieb Stephan in Dörnthal. Er hatte schon hier gewohnt, als der IHS noch nicht alles gehörte. Er hatte noch die Zeit mitbekomme, als in dem Gebäude, das heute „Zum Himmel“ hieß, noch an den Wänden Bilder hingen, an der einen Wand Holzstatuen standen und hier unter dem Kreuz, das er gerade sauber machte, noch ein Altar war. Er war sogar dabei gewesen, als hier der letzte Gottesdienst gehalten wurde. Das war vor knapp vierzig Jahren gewesen.
    Dann war alles geschlossen worden. Ein paar Jahre stand alles leer und es sah schlecht aus für das Dorf Dörnthal. Dann hatte die IHS angefangen alles aufzukaufen. Sie hatte Jobs geschaffen. Es zogen sogar Leute von außerhalb herbei. Aus dem „Dorf Dörnthal“ wurde im öffentlichen Sprachgebrauch in dieser Zeit die „Siedlung Dörnthal“. Offiziell, weil man in die Zukunft schauen wollte, inoffiziell, weil die IHS es so wollte. Eine Siedlung war eine Gewährleistung von oben und konnte von oben auch schnell wieder aufgelöst werden. Ein Dorf entstand aus sich selbst und hatte ein Eigenleben.
    Die alten Familien des Dorfs waren bald in der Minderheit. Es gab Einwanderer von überall und man war in der Siedlung besonders stolz, als man im Jahr 2115 die magische Zweitausend-Einwohner-Grenze knackte.
    Aber dann ging es ganz schnell. Die IHS hatte das Interesse an Dörnthal verloren. Es gab an anderen Orten schwere Probleme und es war für die IHS notwendig das weltweit umspannende Netz der Organisation aufrecht zu erhalten. Das ehemalige Deutschland war für die IHS ein sicheres Terrain. Hier herrschte wenig Gefahr den Einfluss zu verlieren. An anderen Orten war es viel mehr nötig, dass die IHS Präsenz zeigte.
    Und Präsenz zu zeigen ging nun einmal am besten mit Jobs. Also wurden an anderen Orten Jobs geschaffen, während in Dörnthal die Jobs zusammen gestrichen wurden. Seit ein paar Jahren stiegen außerdem die Mieten in Dörnthal stark an. Viele zogen weg und die Geschäfte schlossen.
    Nur der „Himmel“ blieb offen. Stephan tat alles dafür. Er hatte Trennwände aufgestellt, sodass man die leere Hälfte des großen Saals nicht mehr sah, nachdem die Gäste ausblieben. Außerdem hatte das den Vorteil, dass er nur noch auf der einen Seite die Heizung einschalten musste. Mit jedem Jahr zog er die Stellwände weiter in den Raum hinein. Es war ein Trauerspiel.
    Stephan stieg von der Leiter und kam zu Judith. Er schüttelte nur den Kopf. „Wie soll das nur weiter gehen?“, fragte er sie und dachte an all das was um sie herum passierte. Was bliebe denn noch in Dörnthal stehen, wenn Judith Tellerrand und ihr Sohn Gregor auch noch verschwänden? Tellerrands gehörten auch zu den alten Familien. Von den Häusern und Gassen des Dorfs war schon nicht mehr viel zu sehen. Was wäre, wenn er sein Restaurant zumachen müsste und es das mit den Gequatsche am Nachmittag für immer vorbei wäre?
    Judith kannte den Blick, den ihr alter Freund Stephan gerade hatte. Er hatte ihn häufig.
    Sie wollte gerade versuchen ihn aufzuheitern, da setzte Stephan wieder an. Sie sei nicht die einzige, von der die IHS im Moment mehr wolle. Gestern noch hätte ihm C.M. Chariot davon erzählt, dass auch er mehr an die IHS zahlen solle.
    „Pah!“, entfuhr es Judith. „Bleib mir weg mit dem alten Cowboy“. Sie konnte C.M. Chariot nicht ausstehen. Die Beziehung beruhte auf Gegenseitigkeit. Der Abteilungsleiter der Fleisch-Ersatzstoff-Fabrik Dörnthal war vor knapp 10 Jahren mit seiner Frau Agnes und seinem Sohn Henry nach Dörnthal gekommen. Zunächst begeistert von der IHS und ihrer Ethik, nach der allein harte Arbeit zu Erfolg führen solle, schien auch er heute mehr oder weniger genervt von der IHS zu sein. Noch mehr war er allerdings von Judith Tellerrand genervt. Er hielt sie für eine furchtbare Schreckschraube, die sich nicht so anstellen sollte. Sie hielt ihn für einen schrecklichen Großkotz ohne jedes Gefühl.
    Stephan tat es sofort leid, dass er C.M. erwähnt hatte. Er wusste von der Beziehung der beiden zu einander. Er wusste sogar noch den Auslöser, an dem sich die beiden in der ersten Woche nachdem Chariot die Fabrik übernommen hatte überwarfen. Sehr wahrscheinlich wussten den selbst Judith und und C.M. nicht mehr. Aber Stephan hatte keinen Anlass ihn zu erwähnen.
    Er versuchte das Thema wieder zu wechseln. „Wir alle haben unser Päckchen zu tragen. Mir haben sie im Januar ja auch die Miete erhöht. Wenn sich nicht irgendwann was ändert, wird das schwer den Himmel offen zu halten.“
    Er wollte eine Reaktion abwarten, sah aber, dass Judith immer noch dieses Funkeln in den Augen hatte. „Es ist einfach nicht mehr das gleiche wie früher. Jetzt, da hier nur noch ein paar Hundert Leute wohnen wird es hier auch nicht mehr voll.“
    „Du hast recht. Wir werden immer weniger. Und selbst die die noch da sind haben doch kaum Geld. Außer natürlich Chariot. Der verdient sich ja immer noch dusselig. Der Gauner schafft es ja immer noch Geld an der IHS vorbei zu schieben. Ich wüsste zu gern wie er das macht.“
    „Judith...“ Stephan wusste nicht was er sagen sollte. Er wollte bloß keinen weiteren Streit.
    „Du hast recht. Ich sollte mich nicht über den Dreckssack aufregen.“
    Sie stocherte in ihrem Essen herum. Es sah aus wie Bratkartoffeln mit Speck. Es waren natürlich weder Bratkartoffeln noch Speck. Niemand in Lichtfurt konnte sich solche Kostbarkeiten noch leisten. Die Kartoffeln waren zusammengepresst aus Emulgatoren, Stabilisatoren, Konservierungsstoffen und einigen Dingen von denen Stephan gar nicht wissen wollte, was sie genau waren. Aber er hatte sie immerhin selbst geformt und angebraten. Der Speck war auch nie an einem Tier gewesen. Er war ganz in der Nähe entstanden, in Chariots Ranch, aber das sollte Judith besser nicht erfahren. Der Großteil des Fleischs in Stephans Küche war zwischendurch natürlich erst einmal über einen Großhändler weitergehandelt worden. Aber ein klein wenig hatte er direkt von Chariot bekommen. Für beide war es so ein wenig günstiger, sie dürften nur nicht übertreiben, damit der IHS nichts auffiel. Und Stephan dürfte Judith nichts davon erzählen, sonst würde die sich nur darüber aufregen. Sie dachte, dass er nur mit ihr eine entsprechende Abmachung hätte.
    Als Judith mit dem Essen fertig war, wischte sie ihren Mund ab. „Großartig. Danke Stephan, das war wirklich lecker!“ sie machte sich an ihre Geldbörse herauszuholen und Stephan kam mit dem Kartenlesegerät an. „Freut mich, dass es dir geschmeckt hat.“
    Mit einem Lächeln hielt er ihr das Gerät hin. Sie lächelte zurück und zahlte.
    „Weißt du, Stephan? Ich sollte es vielleicht noch nicht erzählen, aber ich hab einen Plan. Ich will im Herbst mit Gregor eine Woche nach Rom fahren. Er war ja noch nie wirklich weit weg. Am Wochenende fährt er ab und zu bis nach Lichtfurt, aber mal richtig Urlaub. Das hatte er noch nie. Und ich hatte meinen letzten auch bevor ich ihn bekommen hab.“
    Stephan grinste sie an. Das waren schöne Nachrichten. In der Werbung war immer die Rede von Urlaub, aber kaum jemand in Dörnthal leistete ihn sich. Judith erst recht nicht. Sie hatte sich ganz allein von der einfachen Angestellten bis zur Abteilungsleiterin hochgearbeitet, während sie gleichzeitig ihren Sohn großgezogen hatte. Wenn Stephan es jemandem gönnen würde Urlaub zu machen, dann den beiden.
    „Die Idee hatte ich, Moment, den wievielten haben wir heute?“
    „Äh... Den 14. Mai 2133, laut Uhr.“
    „Dann kommt das hin. Die Idee hab ich jetzt schon ein halbes Jahr. Irgendwann im Dezember hattest du die Legende von dem Pärchen erzählt, die herumziehen und dann Sachen geschenkt bekommen. Jedenfalls hat mich das inspiriert selbst reisen zu wollen. Deshalb versuche ich seit dem auch zu sparen. Das ist auch der Grund, weshalb ich zuletzt auch so unregelmäßig bei dir war. Ich dachte es ist nur fair, wenn ich dir da mal erzähle warum.“ Während sie sprach, hatte sie ihre Sachen zusammen gepackt. Sie war sich offensichtlich nicht sicher, wie Stephan die Aussage aufnehmen würde. Immerhin ging ihm dadurch Geld verloren. Aber der Mann mit der runden Brille grinste sie nur an: „Ich wünsche euch viel Erfolg. Ich drücke dir die Daumen. Du hast dir einen Urlaub wirklich verdient.“
    Mit einem Mal wurde die große Kirchentür aufgerissen und der sechzehnjährige Gregor stand im Türrahmen. Die Aufregung war ihm ins Gesicht geschrieben: „Mama! Komm schnell! Auf der Farm brennt es!“
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  4. #4
    Registrierter Benutzer Avatar von klops
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    "Schreckschraube"?!?! Das Wort hab ich bestimmt 25 Jahre nicht mehr gehört

  5. #5
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    Zitat Zitat von klops Beitrag anzeigen
    "Schreckschraube"?!?! Das Wort hab ich bestimmt 25 Jahre nicht mehr gehört
    Unter Älteren kommt das schon mal vor.

  6. #6
    starc und vil küene Avatar von Louis XV.
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    Dürfen wir Anmerkungen und Verbesserungsvorschläge und sowas machen, oder stört das und lenkt dich ab? So wie du es beschreibst, wäre es vermutlich besser, wenn du einfach mal runterschreibst, und erst im Nachgang dann ans Redigieren gehst.

  7. #7
    Geschichtsmeister Avatar von maxim_e
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    Zitat Zitat von klops Beitrag anzeigen



    "Schreckschraube"?!?! Das Wort hab ich bestimmt 25 Jahre nicht mehr gehört
    Hey, das ist "die Zukunft"(TM). Da spricht man so

    Ich denke der Begriff ist ganz passend um C.M. zu charakterisieren. So würde er wohl sprechen. Aber wenn es andere Vorschläge gibt bin ich immer offen zuzuhören.

    Zitat Zitat von Louis XV. Beitrag anzeigen
    Dürfen wir Anmerkungen und Verbesserungsvorschläge und sowas machen, oder stört das und lenkt dich ab? So wie du es beschreibst, wäre es vermutlich besser, wenn du einfach mal runterschreibst, und erst im Nachgang dann ans Redigieren gehst.
    Naja, ich könnte euch eh nicht aufhalten zu posten, von daher: mach ruhig

    Ganz im Ernst: Feedback zu bekommen war sogar ein bisschen die Intention. Ich hab die Restgeschichte ja bereits vorformuliert, also kann ich auch ziemlich gut abschätzen, wenn jemand eine Idee hat, ob die uns Konzept passt oder nicht.

  8. #8
    This is the Way Avatar von Mr.Windu
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    Erstmal: holen, dann kann man mal weiterlesen.
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  9. #9
    starc und vil küene Avatar von Louis XV.
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    Zitat Zitat von maxim_e Beitrag anzeigen
    Naja, ich könnte euch eh nicht aufhalten zu posten, von daher: mach ruhig
    Ich wollte eigentlich vor allem darauf hinaus, dass du am Anfang ganz viel World-Building-Einführung machst. Du führst zwar zwei Charaktere ein, aber dann kommt erst einmal ein ganz langer Abschnitt mit "So, lieber Leser, jetzt erkläre ich Autor dir mal, wo wir uns überhaupt befinden, was die Hintergründe sind, und wie du dir die Welt vorzustellen hast." Du verpackst es zwar in die Gedanken von Judith, aber es ist völlig klar, dass das gerade deine Autoren-Einführung für den Leser ist. Und du packst insgesamt eine große Menge rein. Den Ort, die Zeit, die politischen Umstände, Details zum Essen, direkt noch einen neuen Charakter mit CM, etc. etc. Das macht den Einstieg eher sperrig. Deine Sprache wiederum ist durchaus schmissig und fließend, es ist also vor allem ein Problem im Struktur-Aufbau.

    Besser wäre vermutlich, erstmal eine Szene zu haben, in der die beiden Protagonisten wirklich miteinander sprechen, sodass man unbewusst und angenehmer in die Welt eintaucht. Sie können ja auch erstmal über was ganz anderes reden, und man merkt erst nebenbei, dass wir uns hier nicht in der Gegenwart befinden. Oder sie erzählen die Welt und die Hintergründe eben im Dialog. Aber dann muss man auch aufpassen, dass es nicht gekünstelt wirkt und nur eine Variante von dem ist, was ich oben geschildert habe, denn normalerweise sprechen Menschen nicht über das, was für sie offensichtlich und normal ist. Wenn wir zwei uns auf der Straße treffen, erkläre ich dir nicht, was ein Forum ist oder was das Internet ist, damit ein Leser aus dem 18. oder 22. Jahrhundert versteht, worum es geht.

    Und dann kommt die ganze Exposition und die Hintergründe stückweise ran, in Happen, auf die sicher der Leser freut. Und am besten in der alten Regel von "Show, don't tell", also im Zweifelsfall sollten die Protagonisten wirklich konkret und handfest etwas damit zu tun haben. Der ganze Hintergrund zum Fleisch und Stephans Panscherei könnte ein eigenes Kapitel sein, oder mindestens ein eigener Abschnitt, du quetscht es zwischen zwei Bisse von Judith. Dabei ist es an dieser Stelle zunächst mal eigentlich gar nicht nötig.

    All that being said... Es besteht eine große Gefahr darin, als Autor ständig an den ersten Abschnitten und Kapiteln herumzuschrauben, und deswegen niemals voranzukommen. Deswegen war ich unsicher, ob ich dir sowas überhaupt mit auf den Weg geben soll, weil es halt auch schädlich sein kann, wenn man nochmal alles überarbeitet, anstatt einfach weiter zu machen.


  10. #10
    This is the Way Avatar von Mr.Windu
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    Zitat Zitat von Louis XV. Beitrag anzeigen
    Besser wäre vermutlich, erstmal eine Szene zu haben, in der die beiden Protagonisten wirklich miteinander sprechen, sodass man unbewusst und angenehmer in die Welt eintaucht. Sie können ja auch erstmal über was ganz anderes reden, und man merkt erst nebenbei, dass wir uns hier nicht in der Gegenwart befinden. Oder sie erzählen die Welt und die Hintergründe eben im Dialog. Aber dann muss man auch aufpassen, dass es nicht gekünstelt wirkt und nur eine Variante von dem ist, was ich oben geschildert habe, denn normalerweise sprechen Menschen nicht über das, was für sie offensichtlich und normal ist. Wenn wir zwei uns auf der Straße treffen, erkläre ich dir nicht, was ein Forum ist oder was das Internet ist, damit ein Leser aus dem 18. oder 22. Jahrhundert versteht, worum es geht.
    Grade dass im Dialog finde ich eben eher gekünstelt.
    Wie du schon sagst, in einem normalen Gespräch zweier sich vertrauter Personen die Welt zu erklären ohne es komplett gekünstelt werden zu lassen sehe ich als seeeehr sehr schwierig an.
    So fand ich z.B. den Abschnitt indem Stephan Judith sagt welches Datum wir haben las zu offensichtlich, dass das jetzt dazu diente mitzuteilen in welchem Jahr wir uns befinden und damit zu aufgezwungen.
    Die Beschreibung der Welt hingegen gefiel mir da schon besser, vielleicht einfach etwas weniger davon auf einen Schlag.

    Ich kann es aber auch als Leser z.B. halt nie leiden, wenn man zu lange im Dunkeln gehalten wird, was überhaupt passiert, wo das ganze stattfinden und was für ein Setting herrscht.
    Mir ist es lieber, ich krieg von Anfang an aufgezeigt was mich erwartet und wie es funktioniert, als dass ich es mühselig über irgendwelche Zwischensätze mir zusammenbauen muss.
    Wo man teilweise nach wie vielen Seiten oder Kapiteln erst weiss, wie es grob aussieht und eigentlich mit dem Wissen wieder von vorne anfangen könnte, da es jetzt erst alles einen Sinn ergibt, übertrieben gesagt .
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  11. #11
    Registrierter Benutzer Avatar von Version1
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    Ich find schon, man könnte gut die Hälfte der Informationen in diesem ersten Kapitel streichen. Wir brauchen beispielsweise nicht mehrere male zu lesen, dass es dem Restaurant schlecht geht. Das sagt man einmal und dann hat der Leser es im Kopf. Außerdem brauchen wir auf keinen Fall die Geschichte eines Dorfes, das wir gar nicht kennen. Die meisten Informationen, die du in dieser ersten Szene einbaust, könnte man über die ersten paar Kapitel verteilen. Beispielsweise das ganze mit der IHS oder der "Ranch".

    Stell doch sowas lieber vor, wenn es auch wirklich in der Geschichte vorkommt.

  12. #12
    starc und vil küene Avatar von Louis XV.
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    Zitat Zitat von Mr.Windu Beitrag anzeigen
    Grade dass im Dialog finde ich eben eher gekünstelt.
    Und genau das ist die Aufgabe und Herausforderung eines Autors, es nicht gekünstelt wirken zu lassen. Zum Beispiel über eine Mischung aus Dialog und inneren Gedanken. Oder, indem Details nicht einfach präsentiert werden, sondern mit Meinungen verknüpft werden: "Muss das jetzt wirklich sein? Hätte das nicht noch warten können? Ich weiß, viele Leute nennen dich die gute Seele von Dörnthal, aber findest du nicht, dass du dich manchmal zu sehr ausnutzen lässt?" Schon hast du eine Hintergrund-Information sinnvoll in ein Gespräch eingebunden.

    Davon abgesehen gibt es natürlich die üblichen Tricks, wie Menschen, die "von außerhalb" kommen, und deswegen Dinge erklärt bekommen müssen. Da besteht selbstverständlich auch die Gefahr, leicht in gekünstelte Situationen abzudriften, aber wenn man das umgeht, kann es sehr gut funktionieren.

    Zitat Zitat von Mr.Windu Beitrag anzeigen
    Ich kann es aber auch als Leser z.B. halt nie leiden, wenn man zu lange im Dunkeln gehalten wird, was überhaupt passiert, wo das ganze stattfinden und was für ein Setting herrscht.
    Auch hier besteht die Kunst in der Mischung, und daraus, zu sortieren, was der Leser sofort wissen muss, damit er die richtige Vorstellung hat, was er sich daraus dann (korrekt) zusammenreimen kann, und was man ihm an Details noch später präsentieren kann. Für mich wären spontan die wichtigsten Informationen in dieser Einleitung die Sache mit dem Fleisch-Ersatzstoff, weil das neugierig macht, weil es spannend ist, und weil es mir (möglicherweise) auch später noch relevant erscheint, und natürlich die Sache eines mächtigen IHS und das generelle Gefühl von Dystopie und wirtschaftlich beklemmender Lage. Alles andere wären für mich erstmal Details, die ich an dieser Stelle noch gar nicht brauche. Ich will mich erstmal zurechtfinden, die wichtigsten Fakten verstehen und die Stimmung aufnehmen. Und die Leute kennenlernen.

  13. #13
    starc und vil küene Avatar von Louis XV.
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    Zitat Zitat von Version1 Beitrag anzeigen
    Beispielsweise das ganze mit der IHS oder der "Ranch".
    Ja, auch die IHS könnte man noch verlegen, wobei sie schon auch in gewisser Weise ein gewisses Bild entstehen lässt, deswegen hatte ich sie in meiner Aufzählung ja sogar als eher wichtig drin. Dass da irgend eine Macht im Hintergrund steht, lässt sich schon gut im ersten Abschnitt vertreten, vielleicht brauche ich als Leser zunächst mal aber gar nicht so viele Informationen, sondern bekomme die erst, wenn unsere Protagonisten konkret mit einem Vertreter der IHS zu tun bekommen, oder mit einem konkreten Gesetz, das ein Problem in einer Szene darstellt.

  14. #14
    Geschichtsmeister Avatar von maxim_e
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    Ich finde das toll wie ihr hier auf meine Texte reagiert. Wirklich spannend worüber ihr tatsächlich nachdenkt und was ihr eher übergeht. Ich möchte nichts weiteres verraten (vor allem nichts, was sonst noch in der Geschichte vorgehen wird), aber nehme auf, was eure Meinungen zum Detailreichtum hier im Anfangskapitel sind. Auch wenn die Meinungen da sehr aus einander zu gehen scheinen zeichnet sich ja eine Tendenz ab.

    Ich habe seit heute morgen jedenfalls noch ein wenig nachgedacht. Ich denke ich werde das tatsächliche redigieren erst dann angehen, wenn die Geschichte auserzählt ist. Jetzt, nach den ersten paar Seiten könnt ihr ja noch gar nicht wissen, was später noch wirklich wichtig wird und was nicht.

    Ich hoffe darauf, dass ich noch viele Rückmeldungen bekomme, die ich später noch einbauen oder bei der Überarbeitung anpassen kann. Bisher scheint die Story ein voller Erfolg zu sein.
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  15. #15
    Geschichtsmeister Avatar von maxim_e
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    Kapitel 2

    Noch bevor sie bei der Farm ankamen stieg Judith der Rauchgeruch in die Nase. Eine große, dunkle Rauchwolke lag am westlichen Ende der Anlage. Die einzelnen Teile der Fabrik waren glücklicherweise nur durch einzelne Gänge verbunden, sodass sie gut voneinander abzutrennen waren. Es sollte also, sofern die rechtzeitigen Maßnahmen ergriffen worden waren, der größte Teil der Fabrik sicher sein. Hoffentlich hatte Kussmund entsprechend reagiert.
    Roman Kussmund war der stellvertretende Abteilungsleiter. Er sah immer gut aus. Und das war nicht nur äußerlich gemeint, auch wenn er auch darauf viel wert legte. Er war sehr von sich selbst überzeugt und verstand es auch, andere von sich zu überzeugen. Er war für gewöhnlich dann zu sehen, wenn er gesehen werden musste. Und er war auch jetzt zu sehen.
    Er stand auf dem Eingangshof der Farm neben dem Löschfahrzeug der Siedlung und unterhielt sich mit IHS-Sicherheitsmeister Luc Sénèque. Als sie hinzu kam zeigte Kussmund Sénèque gerade einen Plan der gesamten Fabrikanlage. Der Sicherheitsmeister kannte den Plan der Anlage natürlich, er war schließlich speziell zur Sicherheit der beiden großen Fabriken nach Dörnthal abkommandiert worden.
    „Gut, dass Sie endlich da sind, Frau Tellerrand.“, begrüßte der kräftig gebaute Sénèque sie. Judith verfluchte sich im Stillen, dass sie nicht da gewesen war, um den Notruf abzusetzen. Wenn es schlecht lief, konnte das nämlich bedeuten, dass Kussmund für seine Tat an ihr vorbei befördert wurde und dann müsste sie einen Nachfolger einarbeiten. Auch wenn sie nicht wusste, ob sie ihn mochte, Kussmund war der beste Stellvertreter den sie sich vorstellen konnte. Auch die Möglichkeit, dass die IHS sie bestrafen würde, weil sie ihre Mittagspause im Restaurant verbracht hatte, schoss ihr in den Kopf. Dann sprach der Brandmeister sie wieder an.
    „Ihr Kollege hier hat das wichtigste schon erledigt. Die meisten Gebäude scheinen sicher zu sein. Herr Kussmund hat rechtzeitig die Sicherheitstore verschlossen. Die Arbeiter scheinen auch alle, soweit ich das sehe, hier draußen zu sein. Sie sollten das aber noch mal kontrollieren. Die Gebäude A und D bis G sind nicht betroffen, C ist voller Rauch, da muss ich später noch einen Kontrollgang machen. Erstmal kümmere ich mich aber jetzt um B, da scheint das Feuer ausgebrochen zu sein. Herr Kussmund kann ihnen schnell erklären, was passiert ist.“
    Die Informationen rasselten nur so auf Judith ein und ehe sie sich versah hatte der kräftig gebaute Schwarze einen Feuerlöscher vom Wagen genommen und war in Richtung des Gebäudes B losgelaufen.
    Während sie dem Mann hinterher sah, wie er alleine und nur mit der etwa 40cm großen Flasche bewaffnet, die in seinen Händen wie Spielzeug aussah, loslief fing Kussmund schon mit seinem Briefing an. In Gebäude B sei seit einigen Tagen etwas an der Belüftung defekt gewesen und deshalb waren dort Wartungsarbeiten für kommenden Montag angesetzt worden. Da es ja nicht die Produktion betroffen hatte, war die Priorität nicht sonderlich hoch gewesen. Durch dieses Belüftungssystem habe sich der Brand sich dann jedenfalls ungesehen über das ganze Gebäude ausbreiten können. Das wäre natürlich nicht passiert, wenn das System nicht defekt gewesen wäre und rechtzeitig Alarm gemeldet hätte. Auf jeden Fall seien innerhalb von wenigen Minuten dann Alarmmeldungen aus dem ersten, dritten und vierten Stockwerk gekommen. Weshalb er dann sofort alle Verbindungen zu anderen Gebäuden gekappt hatte und die Evakuierung aller Arbeiter auf der ganzen Fabrik angeordnet hatte.
    Das tue ihm auch leid, bei den Gebäuden D, F und G habe es ja keine einzige Meldung gegeben. Aber er habe es mit der Angst bekommen und erst einmal alle Arbeit auf der Farm angehalten. Dann habe er sie versucht zu erreichen, aber sie habe seinen Anruf nicht abgenommen. Deshalb habe er dann Gregor losgeschickt, damit dieser sie hole. Die Arbeiter seien im Moment alle im hinteren Hof untergebracht. Dort könne sie dann auch gleich mit ihnen sprechen.
    Judith war für einen Moment erleichtert, dass niemandem etwas passiert zu sein schien. Dann fiel ihr siedend heiß ein, dass das komplette Evakuieren der Anlage dazu geführt haben könne, dass es zu Folgeschäden kommen könnte. Schließlich waren einige der Maschinen sehr sensibel, wenn sie nicht ordnungsgemäß heruntergefahren wurden und konnten außerdem bei unbeobachteter Nutzung überheizenn. Wie dem auch sei, um mögliche Folgeschäden musste sie sich kümmern, wenn die anderen Probleme gelöst waren. Sie fragte nach, wie der aktuelle Stand in den Gebäuden B und C war.
    Kussmund konnte zu C erklären, dass dort die Lage ziemlich ungewiss sei, immerhin sei dort noch viel Rauch. Dort waren aber keine Sprinkler angegangen, also waren dort hoffentlich keine offenen Flammen.
    Bei Gebäude B hingegen waren die Sprinkler angegangen. Dort schien es offene Feuer gegeben zu haben und zwar vor allem im dritten Stockwerk. Ein weiterer Sprinkler war auch in Stockwert eins angesprungen und zwei weitere im vierten Geschoss. Im vierten waren allerdings insgesamt wesentlich weniger Sprinkler, da dort ja das Saatgutlager war. Dort wäre ein Löschen mit Wasser genauso verheerend wie ein Brand.
    Judith wusste das natürlich. Sie hoffte nur, dass Sénèque es auch wusste. Ein einziger Stoß mit dem Löschschaum aus seinem Feuerlöscher könnte mehrere Kubikmeter Saatgut unbrauchbar machen. Judith sah auf ihre Uhr. Die Arbeit musste weiter gehen. Sie machte sich auf um mit den Arbeitern zu sprechen und zu beruhigen. Nach und nach sollten sie so schnell wie möglich wieder an ihre Maschinen kommen und so den Supergau verhindern. Eine verlorene Stunde im Arbeitsplan war noch verkraftbar. Ein verlorener Tag? Das war unmöglich bis zum Monatsende aufzuholen.

    Es dauerte keine halbe Stunde, bis Gebäude F wieder auf Hochtouren lief. Knapp eine halbe Stunde darauf waren auch die Arbeiter in den Gebäuden D und G wieder am arbeiten. Gebäude E folgte einige Stunden später, da dort das Herausblasen des Rauchs wesentlich länger dauerte. Aber es gelang. In den Abendstunden waren auch die Gebäude B und C frei.
    Judith und Herr Kussmund hatten alles koordiniert und die ersten Meldungen an die IHS-Zentrale waren noch herausgegangen, bevor Herr Sénèque zum ersten Mal aus Gebäude B herausgekommen war. Das war wichtig gewesen, da es so an ihnen lag, die ersten Schadensmeldungen herauszugeben. Das konnte ihnen einiges an Geld sparen. Es war ein Glück, dass Gebäude A und damit ihre Büros vom Feuer verschont geblieben waren.
    Im Laufe des Nachmittags war Herr Sénèque noch weitere drei Mal in Gebäude B gegangen um dort zu löschen und einmal in Gebäude C. Judith hatte natürlich mitgezählt und aufgepasst, dass Herr Sénèque nicht unnötig viel löschte. Die Rechnung die die Fabrik für einen kompletten Nachmittag an Löscharbeiten veranschlagt bekommen würde, war auch so hoch genug, da durften weder unnötige viel Gefahrenzuschlag noch überflüssige Flaschen Löschschaum zu Buche schlagen.

    Als Judith gegen 21 Uhr mit ihrem Sohn zusammen in ihrer Wohnung aß, hatte sie die schlimmen Nachrichten, die im Laufe des Nachmittags zusammengekommen waren, noch nicht verdaut. Gregor ebensowenig.
    In den Gebäuden B, C und E hatte es technische Störungen gegeben aufgrund der Übersteuerung der Maschinen während der Evakuierung. Die Ersatzteile übernahm aber hoffentlich zu großen Teilen die IHS. Judith hatte keine Lust, mit Kussmund deswegen einen Rechtsstreit anzufangen und hoffte einfach darauf, dass dieser dafür auch darauf verzichten würde, sie für irgendwas verantwortlich zu machen. Er hatte durchaus Sachen gegen sie in der Hand, und wenn es nur wäre, dass sie ihre Mittagspausen außerhalb der Farm verrichtete. Wenn er sie auch nur irgendwie anschwärzen würde könnte das dafür sorgen, dass sie ihren Job verlor. Und dann wäre es Kussmund, der zum Abteilungsleiter der Farm würde, er hätte zumindest ein Motiv.
    Statt es darauf ankommen zu lassen, lohnte es sich lieber, ein paar Tage Verdienstausfall in Kauf zu nehmen, bis die technischen Störungen behoben wurden. Aber das war nicht das schlimmste Problem.
    Noch schlimmer als die durchgebrannten Maschinen war, dass Sicherheitsmeister Sénèque die Saatgutspeicher nicht hatte vollständig retten können. Mehrere hundert Tonnen Saatgut waren geröstet worden oder gleich ganz zu Asche verbrannt.
    Und dieser Schaden würde durch Sénèques Bericht ihr angetragen werden. Sie hatte die Entscheidung getroffen, zunächst Gebäude C zu untersuchen, bevor der hinterste Gebäudeteil von B überprüft wurde. Sie hatte darauf gehofft, dass die Schutztanks auch die Hitze abhalten würden und nicht bedacht, dass das Fabriklüftungssystem auch indirekt mit den Lagerräumen verbunden war. Dorthin gingen zwar höchst selten Menschen, aber theoretisch waren dort auch Arbeitsplätze. Stattdessen wollte sie lieber Gebäude C sichern, in dem wesentlich mehr Menschen arbeiteten. Sie wusste, dass das der Einfluss ihres Freundes Stephan war, der stets davon sprach, wie wichtig die Menschen doch seien. Aber jetzt konnte sie auch nichts mehr an ihrer Entscheidung ändern und musste damit leben.
    Die IHS würde sie dafür nicht entlassen, solange der Bericht von Sénèque ihr gegenüber halbwegs positiv ausfiel und das hatte sie sich immerhin eine ganze Stange Geld kosten lassen. Nichtsdestoweniger, es würde ein Makel sein. Und es würde bedeuten, dass sie für die neuerliche Zuteilung von Saatgut draufzahlen werden müsse. Wenn sie denn überhaupt rechtzeitig etwas bekäme.
    Judith war am Boden zerstört. Sie hatte Angst. Sie würde draufzahlen müssen und trotzdem die gewünschten Erträge nicht einfahren können. Erst recht nicht, wenn die IHS jetzt noch mehr wollte. Wenn sie in einen Monat nicht die gewünschten Erträge einfuhr war das noch kein großes Problem, ja, aber wäre es danach gut? Was wäre, wenn sie auch in zwei Monaten die Erträge nicht einfuhr? Was in drei?
    Kussmund musste gar keinen Rechtsstreit anfangen, er konnte einfach abwarten, bis sie wegen ausbleibender Erfolge degradiert wurde. Es war hoffnungslos.
    Gregor war ebenfalls hoffnungslos. Aber er war deswegen nicht niedergeschlagen. Er war wütend. Wütend auf Sénèque, wütend auf Kussmund, wütend auf die IHS. Er war auch wütend, dass seine Mutter traurig war. Es war doch nicht ihr Fehler gewesen. Es war eine Katastrophe für die niemand etwas konnte. Es war unfair, dass es seine Mutter treffen sollte. Und es war unfair, dass es ihn treffen würde. Denn wenn seine Mutter nicht mehr Abteilungsleiterin war, würde er dann noch sein Leben so weiterführen können, wie er es im Moment führte?
    Er hatte schließlich seit seinem 16. Geburtstag vor etwas weniger als einem Jahr einen Vertrag bei der IHS. Er war direkt dem Abteilungsleiter der Getreideproduktionsstätte untergeordnet und solange das seine Mutter war, konnte er mit zwei Stunden Arbeit am Tag gut auskommen. Er hätte zwei weitere Stunden arbeiten sollen, aber die waren beständige Ausbildungsstunden, die er jeweils einmal in der Woche in Lichtfurt, der nächst größeren Stadt, ableistete. Weil er diese beständigen Unterricht in Lichtfurt hatte, hatte seine Mutter einen eigenen Wagen für die beiden angeschafft. Und da seine Mutter keine Freizeit hatte, war es ja nur recht, dass er den Wagen immer mal wieder auch außerhalb der Unterrichtstage ausfuhr, nicht wahr. Und das sollte weg bald sein?

    Gregor ging mit einem Grummeln ins Bett und als er erwachte, war es noch nicht vergangen. Es war auch noch nicht weg, als er sich zum Schulunterricht anmeldete. Die Wut in seinem Bauch störte seine Konzentration, was ihn wiederum wütend machte. Er hatte keine Zeit dafür. Er wollte den Stoff, der heute auf seinem Lehrplan stand gern vor dem Mittagessen durch haben. Ansonsten müsste er sich nach seiner Schicht am Nachmittag am Abend sich wieder an den Computer anschließen und dann konnte er es vergessen am Abend noch weg zu fahren. Er versuchte sich zu fokussieren. Der Computer ließ sich nicht belügen.
    Seine Mutter musste sich ebenfalls konzentrieren. Sich zu konzentrieren half ihr sogar, denn solange sie sich konzentrierte, fühlte sie viel weniger von der Leere, die sie so häufig während ihrer Arbeit spürte. Wenn sie keine Ziele hatte, auf die sie hin arbeitete, sei es nun das Auto für Gregor oder der Urlaub im Herbst, dann kam sie morgens kaum noch aus dem Bett. Ihr Leben erschien ihr sinnlos und je näher der Tag kam, an dem Gregor ausziehen würde, desto sinnloser wurde es.
    Insofern war es sogar gut, dass sie an diesem Vormittag viel zu tun hatte. Sie tätigte Anruf um Anruf, schrieb Berichte um und sorgte dafür, dass die Zahlen und Daten, die sie der IHS übermittelte alle passend aussahen. Und dann standen noch ein paar weitere Anrufe an.
    Als der Computer meldete, dass jemand um Einlass bat, war sie überrascht. Frau Nunck hatte sich erst für 14 Uhr angemeldet und jetzt war es gerade einmal 12. Es war äußerst ungewöhnlich, dass Mitarbeiter der Aufsichtsbehörde unpünktlich waren. Es konnte natürlich eine unangemeldete Kontrolle sein, das kam alle paar Monate vor, aber die letzte war keine zwei Wochen her.
    Vielleicht war es ja bloß einer der Arbeiter mit einer Beschwerde, dachte sie bei sich, als sie den Schalter an ihrem Tisch drückte und unten sich die Tür öffnete. Als sie Aufnahme vom Gang sah, erkannte sie die Frau die dort lief aber nicht. Kurze schwarze Haare, langer Oberkörper, muskulös, etwa 30 Jahre alt. Das war nicht Frau Nunck. Aber vermutlich war es irgendjemand der für sie arbeitete.
    Judith stand auf und öffnete ihre Bürotür in dem Moment, in dem auch die Tür des Aufzugs auf ging. Die Fremde sah vom Boden auf und blickte ihr fest in die Augen und wartete. Judith erschauderte einen Augenblick. Dann bat sie sie herein. Die Fremde nickte und ging an ihr vorbei in ihr Büro.
    Als Judith hinter ihr eingetreten war und die Tür verschlossen hatte, setzte die Fremde ein: „Hier hat es gebrannt.“
    „Sie meinen das Feuer von gestern? Ja, es hat insbesondere die Gebäude B und C getroffen, ich...“
    „Sie haben jetzt sicher viele Probleme.“
    „Äh, ja, ich hatte gerade eben noch ein Update zum Bericht abgeschickt...“
    „Was ist aktuell das größte Problem?“
    „Äh, haben Sie den Bericht nicht gelesen? Gehören Sie überhaupt zu Frau Nunck?“
    „Nein. Ich habe keinen Bericht gelesen. Und ich gehöre auch nicht zu Frau Nunck. Ich bin hier um Ihre Probleme zu lösen. Solange sie zahlen können, jedenfalls.“
    Cancel Culture ist ein Synonym für kritische Gesellschaft.
    Wokeness ist ein Synonym für Anstand.

    The sad truth is/you'd rather follow the school into the net
    cause swimming alone in the sea/is not the kind of freedom that you actually want
    Re-gaining Unconsciousness (NOFX)

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