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Thema: [CK2/EU4] Schwer ruht das Haupt, das eine Krone drückt

  1. #556
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    Derselbe Herr, die nächste Dame

    Henry VIII. machte sich allmählich daran, sein Haus zu bestellen. Die testamentarisch verordnete Thronfolge war eine kleine Sensation: Sie räumte auch den Töchtern einen Rang in der Erbfolge ein, die da lautete: Zunächst Edward und seine etwaigen legitimen Kinder. Dann Mary und ihre etwaigen legitimen Kinder. Zuletzt Elisabeth und ihre etwaigen legitimen Kinder. Über den Status der beiden Töchter infolge ihrer Bastardisierungen schwieg sich das Testament aus. Weiter ging die Erbfolge mit den Nachkommen von Henrys jüngerer Schwester Mary. Die Nachkommen seiner älteren Schwester Margaret ließ der König komplett außer Acht, da er nicht vorhatte, England und Schottland unter der Herrschaft der Stuarts zu vereinigen.



    Für seinen Sohn Edward und für die Zukunft des Landes hatte er einen besonderen Plan: England und Schottland unter der Herrschaft der Tudors vereinigt, indem er die kleine Maria Stuart, Königin von Schottland von ihrem sechsten Lebenstag an, mit Edward verheiratete. Eine durchaus vernünftige und sogar visionäre Idee, bedeutete sie doch ein Ende des Blutvergießens, der unablässigen Kriege zwischen Schottland und England. Aber den Stuarts passten die Bedingungen nicht, und das ist gut nachzuvollziehen. So wie der Ehevertrag formuliert war, wäre Schottland leicht an die englische Krone gefallen. Da hielten es die Schotten im Zweifel lieber mit den Franzosen und der Allianz gegen England, die sie seit jeher mit Frankreich hatten. Henry VIII. rächte sich für die schottische Absage an seine dynastische Heiratsofferte, indem er im Mai 1544 einen Kriegszug nach Schottland startete, bei dem Edinburgh niedergebrannt wurde.



    Selbst gegen Frankreich wollte der Tudor nun noch einmal in den Krieg ziehen, doch England war nach Henrys langer aufwendiger Herrschaft völlig pleite, es gab auch keine Kredite mehr. Die Fugger winkten ab, und das englische Parlament fragen wollte der König nicht, so tief mochte er nicht sinken. Kurz: Englands König war nicht mehr kreditwürdig. Und das, obwohl er das Königreich in so gesunder finanzieller Verfassung von seinem Vater Henry VII. übernommen hatte!

    Es ging mit Henry VIII. sowieso dem Ende zu. Die Mediziner versuchten alles Mögliche, die Kosten für die Medikamente des Königs stiegen Woche um Woche. Neben der eiternden Beinwunde und dem monströsen Übergewicht dürfte Henry zuletzt an Diabetes, Malaria und vielleicht sogar Skorbut, jedenfalls an Mangelerscheinungen, gelitten haben. Er ernährte sich einfach zu ungesund, aß quasi nur Fleisch (das als standesgemäß galt) und überhaupt keine frischen Sachen wie Obst und Gemüse, da solche Sachen in dem Verdacht standen, die Melancholie zu fördern. Henry wurde bewusst, dass er nicht mehr so lange leben würde, um seinem Sohn Edward das Zepter direkt übergeben zu können. Der Prinz war zu jung, es würde zu einer Phase der Regentschaft kommen. Zu Catherines Enttäuschung wurde sie nicht zur Regentin Edwards bestellt, dabei war sie eine gute Ehefrau und Stiefmutter.

    Im Gegenteil, der König setzte seiner Frau noch einmal mit seinem grausamen Vergnügen richtig zu, ließ zunächst radikale Protestanten aus ihrer Umgebung verhaften und der Ketzerei anklagen. Eine dieser Personen war Anne Askew, die trotz der schlimmsten Folter standhaft blieb und dem Gericht keine Zugeständnisse machte. Bezüglich der Realpräsenz Christi während der Messe antwortete sie: „Ich habe gelesen: Gott schuf den Menschen, aber dass ein Mensch Gott schaffen kann, habe ich nirgendwo gelesen und werde ich vermutlich auch niemals irgendwo lesen.“ Schlimm zugerichtet, verkrüppelt durch die Folter im Tower, da sie am Ende weder laufen noch stehen konnte, wurde Anne Askew schließlich am 16. Juli 1546 verbrannt.

    Noch im Verlauf des Verfahrens gingen die Traditionalisten in Henrys Reihen noch viel weiter. Sie wollten die Königin mit ihren Sympathien für Häretiker zu Fall bringen. Anne Askew war dazu gewissermaßen nur ein Präludium. Die Königin sei eine Schlange an seinem Busen, flüsterte Bischof Gardiner dem König ein. Henry führte ein sadistisches Machtspiel mit seiner Frau: Wie zufällig wurde eine Abschrift der Anklage im Korridor der Wohnräume Catherines fallen gelassen, worauf die Königin informiert war und verständlicherweise in Panik geriet. Sie suchte umgehend den König auf, in nackter Angst, und fand ihren Ehemann in der Stimmung, weitere theologische Dispute mit ihr vom Zaun brechen zu wollen, um sie zu testen. Catherine erkannte das, und warf sich Henry vor die Füße. Sie sei nur eine törichte Frau, schluchzte sie, mit allen Unvollkommenheiten und Schwächen ihres Geschlechts ausgestattet, und so würde sie es sich niemals anmaßen, ihre eigene Urteilskraft über die Weisheit seiner göttlichen Majestät zu stellen, da er ja der Höchste sei, gleich nach Gott. Sie habe ihn mit den Gesprächen doch nur von den Schmerzen in seinem Bein ablenken wollen und habe nebenbei von seinem theologischen Wissen immens profitiert. Der König nahm sie gerührt in den Arm und sagte: „Ist das so, Sweetheart?“ Dann sind wir wieder vollkommene Freunde!“ Zweifellos authentisch ist die Szene einen Nachmittag darauf, da sie vor zahlreichen Augenzeugen stattfand. Das Königspaar saß gemeinsam im Garten des Palastes, als der Kanzler sich mit vierzig Wachsoldaten näherte, um zur vereinbarten Zeit die Verhaftung der Königin vorzunehmen. Henry wollte davon nichts mehr wissen, obwohl er die Verhaftung zweifellos persönlich angeordnet hatte. Er schrie den Kanzler an, worauf dieser sich demütig zurückzog und einmal mehr über die Unberechenbarkeit seines Königs belehrt wurde. Bei aller Perfidie, aller Berechnung, Henry VIII. hatte offenbar keine Kraft mehr, eine weitere Ehefrau aufs Schafott zu befördern. Wahrscheinlich wusste er auch, dass er keine Zeit mehr haben würde, sich eine neue zu suchen.



    Catherines Position war darauf stärker denn je, und die Traditionalisten verloren merklich an Macht. Das Pendel neigte sich zum Schluss in die reformatorische Richtung, auch weil diese sein königliches Supremat immer verteidigt hatten. Cranmer blieb bis zum Schluss in Henrys Gunst und gab dem sterbenden König die Letzte Ölung (!). Aber Gardiner wurde gestürzt, und die Howards wurden gestürzt, also die weltlichen und geistlichen Führer der katholischen, konservativen Fraktion. Henry fand Gardiner einfach für zu gefährlich, nach seinem Tod eine wichtige Rolle im Regentschaftsrat seines Sohnes auszuüben. Der König verfügte, dass der Rat aus sechzehn ausgewählten Personen bestehen sollte.

    Es ging für Henry VIII. nun ans Sterben. Jeder wusste es, aber niemand durfte es aussprechen, denn das hätte als Hochverrat ausgelegt werden können. Henry war bis einen Tag vor seinem Tod bei Bewusstsein und nahm Anteil an seiner Umgebung. Aufgetürmt auf seinen Kissen, besprach er am 27. Januar 1547 sogar noch einige Staatsangelegenheiten mit seinen Räten. Ein Diener fasste sich ein Herz und sprach das Unaussprechliche aus: Nach menschlichem Ermessen habe der König nicht mehr lange zu leben. In der Tat war der König bereit, die Beichte abzulegen und seine Sünden zu bekennen. Ob er einen Geistlichen sehen wolle, wurde er gefragt. Er wolle den Cranmer, so Henry, aber erst wolle er ein bisschen schlafen. „Und dann, wenn mir danach ist, werde ich Euch darüber benachrichtigen.“ Das waren die letzten Worte des Königs. Als Cranmer kam, war Henry VIII. bereits nicht mehr ansprechbar. Der hinscheidende König konnte sich während seiner letzten Beichte nur noch mit dem Drücken seiner Hand äußern. Dann war es vorbei. Mit Henry VIII. verschied 1549 ein wahrer Renaissance-König, der als prächtiger Hoffnungsträger gestartet war, etliche Ehefrauen und Berater verschliss, den Bruch mit dem Papst lostrat und eine eigene Kirche gründete, und der schließlich als fetter Tyrann sein Leben beschloss.


    Und wie ging es danach weiter...?

    Henrys Wille, dass ein Regentschaftsrat aus sechzehn Personen seinen Sohn Edward VI. vertreten solle, wurde nach seinem Tod rundheraus übergangen. Edwards gleichnamiger Onkel (der Bruder seiner Mutter Jane Seymour) ließ sich nämlich zum Reichsprotektor mit den Befugnissen eines Vizekönigs ernennen. Das war der Anfang erbitterter Machtkämpfe, unter anderem auch mit dem Bruder (Thomas) des Lordprotektors, den Henrys Witwe in nahezu unanständiger Hast heiratete, nachdem der König unter der Erde lag. Sie wurde umgehend schwanger und starb an den Folgen der Geburt ihres Kindes. Thomas Seymour selbst stolperte über eine gefährliche Liaison mit der dreizehnjährigen Prinzessin Elisabeth, die Catherine in den gemeinsamen Haushalt aufgenommen hatte. Während der Regentschaft seines Bruders verlor der schöne Thomas seinen Kopf und Elisabeth ihre Unschuld, zumindest die seelische.

    Der neunjährige Edward VI. hatte nur noch sechs Jahre vor sich, und seine Nachfolgerin auf dem Thron Mary würde sich in den lediglich fünf Jahren ihrer Regierung den Beinamen „die Blutige“ erwerben. Sie wollte England mit allen Mitteln wieder zum Katholizismus zurückführen. Unter anderen Umständen wäre sie wohl eine hervorragende Königin geworden. Und dann kamen die 44 Jahre unter Elisabeth I., die ohne Nachfolge blieb, krönender Abschluss der Tudors, deren Herrschaft in der Schlacht gegen Richard III. 1485 bei Bosworth mit Elisabeths Großvater begonnen hatte. Das beste, was Henry VIII. gemacht hat, war vielleicht seine Tochter Elisabeth. Aber diese, als das, was sie war, nämlich ein Mädchen, außerdem ja auch zu fünfzig Prozent das Produkt ihrer Mutter, war gar nicht beabsichtigt, ganz und gar war sie das nicht. Sie war genauso wenig beabsichtigt wie Henrys sonderbare Reformation.
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    Und durch seine Klugheit wird ihm der Betrug geraten, und er wird sich in seinem Herzen erheben, und mitten im Frieden wird er viele verderben und wird sich auflehnen wider den Fürsten allen Fürsten.

  2. #557
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    Iwan IV. Grosny



    Iwan IV. der Schreckliche

    Iwan IV. Grosny (lebte 1530 bis 1584)
    Erster Zar von Russland von 1533 bis 1584
    Startdatum: 25. August 1530


    Europa im 16. Jahrhundert. Das Antlitz des Kontinents hat sich gänzlich verändert. Während Italien und Deutschland ihre nationale Zersplitterung noch nicht zu überwinden vermochten, verwandelten sich Frankreich und England in absolute Monarchien. Auch im Osten Europas entstand eine gewaltige Macht, das Moskauer Reich. Zu Beginn einer EU4-Partie ist das Territorium von Moskau noch nicht allzu groß. Man muss dann zunächst das tatarische Joch abschütteln, was Moskau um 1500 gelang, allerdings suchten auch weiterhin Nomaden die südlichen Gebiete des Reichs mit Überfällen heim, um Beute aus Plünderungen zu machen. Die Hauptverteidigungslinie verlief an der Oka, direkt bei Moskau. Ab 1500 konnte es für Moskau mit der Mission „Sammlung des russischen Landes“ losgehen, das Reich wurde deutlich mächtiger. Das ist in EU4 die Grundlage dafür, vom Moskauer Großfürstentum zum Russischen Zarenreich zu wechseln. Für einen Spieler stehen von da an folgende Aufgaben an: Reformen zum Schaffen eines zentralistischen Staates, weitere Eroberungskriege, sowie die Angliederung Westsibiriens.



    Diese Partie beginnt am 25. August 1530, dem Tag, an dem der künftige Zar Iwan IV. das Licht der Welt erblickte. Wie soll man das ausdrücken – seine Dynastie war erblich schwer belastet und ging schon langsam seinem Ende entgegen. 700 Jahre lang hatten seine Vorfahren, seit den Tagen der skandinavischen Waräger des Kiewer Rus, ausschließlich innerhalb des engen Familienkreises geheiratet. Moskauer Rjurikiden suchten sich Bräute in Rjurikiden-Familien aus Twer, Rjasan und anderen Fürstentümern. Dies musste früher oder später zur Degeneration des Geschlechts führen, das zeigte sich nun bereits: Iwans jüngerer Bruder Juri war von Geburt an taubstumm und geistesgestört. Später werden auch bei Iwans eigenen Kindern solche „schwarzen Leiden“, wie man sie nannte, auftauchen.

    Iwans Großvater Iwan III. (1462-1505) war zweimal verheiratet gewesen. Zunächst mit einer Fürstentochter aus Twer und dann mit Sophia, der Nichte des letzten byzantinischen Kaisers. Zunächst sollte Iwan, der Sohn aus erster Ehe, die Herrschaft erben. Aber der starb früh, und Iwans Sohn Dmitri ließ Iwan III. später einkerkern. Also machte der Großfürst den Sohn aus zweiter Ehe zu seinem Nachfolger, das war Wassili III. (1505-1533). Auch der war zweimal verheiratet, weil seine erste Ehe mit Solomonia kinderlos geblieben war. Die unglückliche Solomonia wurde zur Nonne geschoren und in ein Kloster gesperrt. Zweite Gemahlin von Wassili III. wurde die junge Fürstentochter Jelena aus Litauen, die nicht dem Hochadel angehörte. Jelena brachte also keine dynastischen Vorteile, aber sie war ziemlich hinreißend, brachte Wassili sogar dazu, sich den Bart abnehmen zu lassen. Der Moskauer Adel allerdings missbilligte die Wahl des Großfürsten. Weitaus schlimmer aber war, dass auch diese Ehe anfangs kinderlos blieb.



    Erst im fünften Ehejahr, am 25. August 1530, brachte Jelena einen Sohn zur Welt, der auf den Namen Iwan getauft wurde. Boshafte Bojaren tuschelten, Iwans wirklicher Vater sei ein Günstling der Großfürstin. Nach einer anderen Überlieferung brach während der Geburt des Kindes im ganzen Lande ein furchterregendes Gewitter aus. Es blitzte und donnerte aus heiterem Himmel. Die Gemahlin des Herrschers von Kasan soll dem Eilboten aus Moskau bei der Nachricht von der Geburt des russischen Thronfolgers gesagt haben: „Es ist ein Zar mit zwei Zähnen geboren worden. Mit dem einen wird er uns Tataren, mit dem anderen wird er Euch auffressen.“

    Der kleine Iwan war gerade einmal drei Jahre alt, da erkrankte sein Vater und starb bald darauf. So passiert es, wohl zufällig, auch in meiner Partie. Die letzten Tage vor seinem Tod hatte Wassili III. genutzt, um mit seinen Beratern und Bojaren über die Gestaltung des unvermeidlichen Regentschaftsrates zu sprechen. Gattin Jelena sollte aufs Altenteil abgeschoben werden, die Regentschaft an sieben Bojaren übertragen werden, darunter Starizki, Schuiski, Jurjew und Glinski. Diese Adeligen sollten zwölf Jahre lang bis zur Volljährigkeit Iwans das Land regieren und der großfürstlichen Familie zur Seite stehen. Die ganzen Treueschwüre und das Beschwören der Einigkeit der Bojaren an Wassilis Krankenlager hielten nach dem Tod des Großfürsten natürlich nicht lange.



    Da war zunächst Juri, der Bruder des verstorbenen Wassili, der lange Zeit bis zur Geburt des kleinen Iwan der erste in der Thronfolge gewesen war. Die Regenten befürchteten, dass Juri versuchen würde, anstelle seines Neffen selber die Macht zu ergreifen. Vorsorglich warfen sie Juri in den Kerker, wo sie ihn über drei Jahre hinweg verhungern ließen. Wie die Stimmung in Moskau war, meldete ein polnischer Agent so: „Die Bojaren dort stechen einander beinahe mit Messern ab.“ Einer der Fürsten, nämlich Owtschina, wurde zum Geliebten von Jelena, die sich mit ihrer Entmachtung nicht abfinden wollte. Hinter diesem Paar stand die Bojaren-Duma, die den Regentschaftsrat unter Glinski zu mächtig fand. Jelena hatte 1534 Erfolg mit ihrer Palastrevolte: Glinski wurde vorgeworfen, er habe Wassili III. vergiftet und die Absicht gehabt, die großfürstliche Familie den Polen auszuliefern. Das war natürlich nur ein Vorwand, um Glinski ebenfalls in den Kerker zu werfen und ihn dort verhungern zu lassen. Die übrigen Mitglieder des Regentschaftsrates packte Jelena zunächst nicht so hart an, aber sie verstanden auch so, dass sie das Ruder übernehmen wollte. Um das zu verhindern, überlegte einer von ihnen, Starizki, sich in Nowgorod Unterstützung für einen Aufstand zu holen, aber er bekam kalte Füße. Jelena griff nun hart durch und ließ auch ihn in den Kerker werfen, wo Starizki eine eiserne Maske aufgesetzt wurde, unter der er ein halbes Jahr lang langsam verhungerte. Entlang der Straße zwischen Moskau und Nowgorod stellte man Galgen auf, an denen die Adeligen erhängt wurden, die sich auf Starizkis Seite geschlagen hatten.



    Man kann sich denken, dass die Zusammenarbeit der Bojaren unter diesen Umständen schwierig war. Eine Frau an der Regierung? Das war gegen jede Tradition! Die Bojaren hassten Jelena, weil sie die alten Sitten und Gebräuche nicht achtete, und schimpften sie eine böse Zauberin. Aber man versuchte, notwendige Reformen anzupacken. In der örtlichen Verwaltung wurden Dienstadelige zu Gerichtsbezirksältesten ernannt und mit der Verfolgung von „bösen Menschen“ beauftragt. Eine wichtige Geldreform, die erlassen wurde, sah so aus: Weil mit zunehmenden Warenumsatz immer mehr Geld benötigt wurde, Russland aber keinen Vorrat an Edelmetallen besaß, hatte der ungedeckte Geldbedarf eine Massenfälschung von Silbermünzen zur Folge gehabt. Man versuchte zunächst, das Problem nach alter russischer Manier zu lösen, indem man den Falschmünzern die Hände abhackte und ihnen geschmolzenes Zinn in den Hals goss. Das alleine reichte aber nicht, deshalb versuchte man es mit echter Geldpolitik. Man nahm die alten Münzen unterschiedlichen Gewichts aus dem Wirtschaftskreislauf und stanzte sie um zur einheitlichen Kopeke.

    Im April 1538 starb Jelena plötzlich. Vielleicht war es Gift, überraschender wäre ein natürlicher Tod. Das war für die Bojaren ein freudiges Ereignis. Der Regentschaftsrat rechnete natürlich sofort mit Jelenas Geliebten Owtschina ab. Dessen Beseitigung war aber schon das einzige, worin sich die Bojaren einig waren, anschließend ging es mit dem Hauen und Stechen untereinander munter weiter. Und mittendrin der junge Iwan, in dessen Namen und Interesse alle vorgaben zu handeln. Er hatte bereits mit drei Jahren seinen Vater verloren und war als Siebenjähriger bereits Vollwaise. Die Bojaren behandelten ihn nicht gut, er war ein Spielball ihrer Interessen. Die Tage verliefen eintönig, der Junge musste stundenlang religiöse Zeremonien gehorsam durchführen, die er gar nicht verstehen konnte. An politischen Fragen ließen die Bojaren Iwan nicht teilhaben, sie achteten aber ganz genau auf seine Sympathien und entfernten mögliche Favoriten prompt aus dem Kreml. Iwan entwickelte sich körperlich sehr schnell und hatte mit 13 Jahren schon eine beachtliche Größe. Zugleich starben zu dieser Zeit seine alten Erzieher, die so autoritär gewesen waren, so dass Iwan frei war für wilde Späße und Spiele: Als Zwölfjähriger stieg er auf den spitzen Dächern des Kreml herum und warf von dort aus Katzen und Hunde hinunter. Mit 14 begann er auch Menschen hinunter zu stoßen. Und wenn er mit Altersgenossen durch die Straßen von Moskau ritt, wurde auch schon mal jemand aus dem einfachen Volk totgetrampelt.
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    Iwan IV. Grosny

    Mit dem Nahen der Volljährigkeit wurde Iwan von den Bojaren immer häufiger in ihre Streitigkeiten einbezogen. Das bedeutete zunächst einmal nur, dass er Zeuge und sogar Leidtragender der gegenseitigen Handgreiflichkeiten wurde, bei denen die Bojaren sich einander ohrfeigten, die Kleider zerrissen, den Rivalen gar töten wollten. Einige Monate später griff Iwan zum ersten Mal in seinem Leben aktiv in diese derbe Art von Politik ein, und zwar auf seine Weise: Einem dieser Bojaren hetzte Iwan scharfgemachte Hunde auf den Hals, die den Adeligen zerfleischten. Damit auch ja jedermann sah, was er getan hatte, ließ Iwan den Toten stundenlang unter dem Torbogen des Palastes liegen. „Von da an begannen sich die Bojaren vor dem Herrscher zu fürchten und ihm zu gehorchen“, notierte ein Chronist.



    All diese Dinge ereigneten sich während der Jahre der Regentschaft (1533-1545), während der ich eher passiv vor dem Bildschirm verharrte, da ich keine aktive Außenpolitik – sprich: Kriegserklärungen – betreiben konnte. Die Truppen parkten an den Grenzen zu Kasan, durften aber nicht loslegen. Zugleich war die Bilanz in den Miesen, die Festungen mussten außer Betrieb gesetzt werden. Und zugleich war das Forschen nicht rentabel, weil die aktuelle Institution „Kolonialisierung“ noch weit davon entfernt war, sich in Russland breitzumachen. Einige Jahre später sollte Iwan IV. den dänischen König bitten, den ersten Buchdrucker nach Moskau zu schicken, um etwas gegen die mangelnde Verbreitung der Institutionen zu unternehmen. Der Klerus sah das überhaupt nicht gerne, die Kirche befürchtete nämlich, dass der Buchdruck lediglich die Häresie ins Land schleppen würde.

    Als Iwan IV. das fünfzehnte Lebensjahr erreichte, konnte er endlich die Regierung antreten. Der Beginn seiner politischen Selbstständigkeit war durch einen Akt großer Bedeutung gekennzeichnet. Zum ersten Mal nahm ein Oberhaupt des russischen Staates den Titel eines Zaren an. Das war im Grunde nichts anderes als der Titel des Kaisers, wie er im Heiligen Römischen Reich verwendet wurde. Mit dem Unterschied, dass die Russen orthodoxe Christen waren, sie sahen sich als das „Dritte Rom“, so auch der Titel des entsprechenden DLC zu Europa Universalis. Nach dem Untergang des Weströmischen Reiches war demnach Kaiser Konstantin, der zum Christentum konvertierte Gründer Konstantinopels und Kaiser des Oströmischen Reiches bzw. Byzanz, der Erbe des antiken römischen Kaiserreiches. Byzanz war also das zweite Rom. Nun war im Jahre 1453 auch Konstantinopel untergegangen, erobert von den Osmanen. Nachdem Moskau das Joch der Mongolen hatte abschütteln können und sich eine Nichte des letzten byzantinischen Kaisers in Iwans Dynastie eingeheiratet hatte, reklamierte er entsprechend für sich, der neue Träger des Kaiserideals zu sein, Moskau war nun das Dritte Rom, der Nachfolger von Byzanz. Zwar hätte bereits Iwans Großvater Iwan III. diesen Titel gerne verwendet, aber damals konnte er es nicht wagen, damit das verfeindete Polen-Litauen herauszufordern. Es ist wichtig, dies zu beachten, denn Iwan IV. zog daraus den Schluss, dass er von Gott selbst zum Zaren eingesetzt worden war, entsprechend war er nur Gott gegenüber Rechenschaft schuldig. Und wer ihm, dem Zaren, widersprach, der widersetzte sich Gottes Wille.



    Einstweilen war Iwan IV. nur ein frischgebackener Herrscher ohne Erfahrung, den die Bojaren nach ihren jeweiligen Interessen zu lenken gedachten. Interessen sind hier gleichzusetzen mit korrupten Methoden, für die Bojaren war Russland ein Selbstbedienungsladen. Da war allen voran die adelige Familie der Glinski zu nennen, die lange Zeit kein Amt inne gehabt und es nun eilig hatte, das Versäumte nachzuholen. Bereits nach kurzer Zeit wurden sie von allen gehasst. Zu leiden hatte unter anderem die Provinz Pskow, deren Bürger sich trauten, Iwan IV. eine Petition mit ihren Klagen vorzulegen. Der Zar reagierte darauf mit Ärger, er ließ die frechen Einwohner festnehmen und demütigen, indem er ihnen die Bärte und Haare mit Kerzen absengen ließ. Anschließend wurden die Bittsteller nackt ausgezogen und auf die Erde gelegt. Nur ein Zufall verhinderte Schlimmeres: Der Zar erfuhr vom Absturz einer großen Glocke im Kreml und machte sich sofort auf den Weg nach Moskau, um sich dieses Wunder anzusehen. In Pskow war man mit der Behandlung ihrer Gesandten nicht einverstanden und probte den Aufstand, bald griff die Empörung auf Nowgorod und Moskau über, man forderte die Auslieferung der Glinski. Moskau ging dabei in Flammen auf. Iwan hatte es 1547 also direkt mit handfesten Unruhen zu tun.

    Am 26. Juni 1547 drangen bewaffnete Moskauer in den Kreml ein, um sich Glinski zu holen. Iwan selbst war in diesem Moment zur Messe in einer Kathedrale, die Bojaren im Kreml konnten den Mob nicht beruhigen. Die Glinski wurden ergriffen und auf dem Platz gesteinigt, ihre Gemächer im Palast geplündert. Nebenher wurde so mancher Diener und Adelige im Kreml erschlagen. Iwan IV. sah sich gezwungen, sich vom Kreml fernzuhalten und auswärts zu übernachten. Am dritten Tag des Aufstands wurde auf dem Moskauer Platz eine große Menschenmenge zusammengerufen. Die Brandgeschädigten riefen laut, Moskau sei durch einen bösen Zauber verbrannt worden, an allem sei die böse Zauberin Anna, die Großmutter des Zaren, schuld. Diese habe den Menschen das Herz aus dem Leib gerissen, die Herzen ins Wasser gelegt und mit diesem Wasser die Stadt besprengt. Sie selbst aber flöge als Elster umher. Die Menge begab sich gemeinsam zu Iwans Anwesen außerhalb der Stadt, um mit der verhassten Familie endgültig abzurechnen. Iwan IV. hatte das Glück, dass es sich bei diesen Unruhen um einen typischen „primitiven Aufstand“ handelte, der nicht zielgerichtet gegen ihn geführt wurde. Man konnte die Menschen vom äußersten, nämlich Hand an den Zaren zu legen, abbringen. Die Unruhen legten sich letzten Endes, die Behörden brachten die Situation wieder unter Kontrolle.

    Für Iwan IV. war das Ganze ein Schock, der ihm die wahre Sachlage vor Augen führte. Er hatte bis dahin ganz andere Vorstellungen von seinen Möglichkeiten gehabt, war denn seine Macht nicht absolut und von Gott gegeben? Auch den Bojaren saß angesichts des Volkszorns der Schrecken in den Kleidern. Der Zar schloss aus den Ereignissen zweierlei: Die Bojaren waren eine korrupte Klasse, die den Aufstieg Russlands behinderten. Und ihre Macht war nicht unzerbrechlich. Reformen waren nötig, um Russland groß zu machen, und diese Reformen mussten gegen den Willen und zu Lasten der Bojaren durchgesetzt werden. Ein zentraler Mechanismus, mit dem die Bojaren das Land im Griff hielten, war seit jeher die sogenannte Rangplatzordnung (Mestnitschestwo):



    Danach hing die Berufung in die verschiedensten Ämter nicht von der jeweiligen Begabung oder den Erfahrungen der betreffenden Person ab, sondern von ihrer adeligen Abstammung, also ihrem gesellschaftlichen Stand bzw. ihrer genealogischen Würdigkeit. In der Praxis bedeutete das, dass die besten Posten den oberen Adelsfamilien zustanden, die darum munter regelmäßig im Streit lagen. Diese Rangstreitigkeiten beeinträchtigten die Staatsinteressen ganz erheblich, was insbesondere in Kriegszeiten spürbar war. Dennoch bewachte der Hochadel eifrig die überholten Traditionen. Das Land brauchte dringend Veränderungen an dem mittelalterlichen System, um zu neuer Stärke zu finden. Das war Iwans erste Phase, „Die Reformen“.

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    Und durch seine Klugheit wird ihm der Betrug geraten, und er wird sich in seinem Herzen erheben, und mitten im Frieden wird er viele verderben und wird sich auflehnen wider den Fürsten allen Fürsten.

  4. #559
    Hamburg! Avatar von [DM]
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    Schon wieder eine Geschichte vorbei

    Jetzt also Iwan.
    Zitat Zitat von Bassewitz Beitrag anzeigen
    Make Byzantium even greater!
    Zitat Zitat von Bassewitz Beitrag anzeigen
    Imperium first, Bedenken second!

  5. #560
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    Iwan IV. Grosny

    Ja, ich wollte zur Abwechslung mal wieder einen weniger geläufigen Charakter nehmen.


    Iwan IV. entschloss sich, hier anzusetzen und den Staat in Richtung Zentralisierung zu führen. Er stärkte bei der Ämtervergabe den so genannten Dienstadel – es waren also weiterhin Adelige, die mit den Posten bedacht wurden, aber solche aus dem gewöhnlichen Adel, aus denen die für die Aufgaben besser Qualifizierten ausgewählt wurden. Die so gebildeten zentralen Behörden waren organisatorische Vorläufer der Ministerien. In den neu geschaffenen Landkreisen wurde lokalen Adeligen mehr Macht zugestanden, denn sie durften nun selber Richter für die Bezirksgerichte wählen. Natürlich konnte Iwan IV. die Abschaffung der Rangplatzordnung nicht Knall auf Fall radikal einführen, dafür war der Hochadel zu mächtig. Aber er öffnete dem Dienstadel zumindest bescheidenen Zugang zu den besseren Posten, sowie die Berücksichtigung bei der Ausgabe von Dienstgütern. Selbst in der Armee konnten fähige Adelige hoch aufsteigen, Iwan IV. ließ Einheiten von Strelitzen aufstellen, das war eine 3.000 Mann starke, mit Feuerwaffen ausgerüstete Garde.



    Mit der Umsetzung betraute der Zar den „Auserwählten Rat“ unter dem Kammerherrn Adaschew sowie dem Protopopen Silvester. Nicht nur beim gewöhnlichen Adel, auch bei der einfachen Bevölkerung kamen Iwans Reformen gut an, denn sie minderten die bisherige schlimme Korruption im Lande.

    Apropos Protopope: Die ganzen neuen Dienstadeligen mussten für ihre Arbeit nun ja Ländereien zugeteilt werden. Woher aber nehmen, wenn man den Hochadel nicht zu arg anpacken konnte? Eine Landreform musste her, wie es 1549 geschah. Und da war schnell auch die Orthodoxe Kirche Russlands betroffen, gehörte den Klöstern doch ein Drittel der Ländereien. Die russischen Mönche waren beileibe keine weltfremden Asketen, sie betrieben Handel und Wucher, wodurch sie zu großen Reichtum kamen. Sollte man also Hand legen an das Vermögen der Kirche? Nun, es gab innerhalb der russischen Kirche durchaus die Bewegung der „Uneigennützigen“ (Starzen), die den Landbesitz der Kirche beschränken und ihr die Dörfer entreißen wollten.



    Gegen die Uneigennützigen standen die Josephiten (benannt nach ihrem Wortführer Joseph Wolozki), die strikt gegen die Säkularisierung der Kirchenländereien waren. Iwan IV. veröffentlichte im Mai 1551 den Erlass über die Konfiszierung aller Böden, die nach dem Tod seines Vater, also seit 1533, von der Bojarenduma an Erzbischöfe und Klöster vergeben worden waren. Außerdem durfte die Kirche keine neuen Ländereien mehr erwerben. Tja, damit nahm der Zar offenbar -5% patriarchalische Autorität in Kauf. Um das Ganze noch rundzumachen, führte der „Auserwählte Rat“ noch eine Steuerreform durch, bei der weltliche Herren spürbare Vergünstigungen im Vergleich zum Klerus und insbesondere zu den Bauern erhielten. Das war ebenfalls ganz im Sinne des Dienstadels, den Iwan für seine Zwecke stärken wollte.

    Die Reformen trugen die Handschrift des erwähnten Protopopen Silvester, einem Beichtvater und Lehrmeister des jungen Zaren. Silvester nannte sich selbst den Ärmsten unter den Armen, der sein Amt weder zur persönlichen Bereicherung missbrauchte, noch nach höheren Ämtern als dieses strebte. Sein Glauben war so tief, dass er himmlische Stimmen hörte und göttliche Visionen hatte. Silvester war gegenüber „seinem Zögling“ Iwan auch sehr streng und wollte dessen Leben bis ins Detail reglementieren, auf dass der Herrscher fromm und sittenstreng sei. Iwan war in der Tat sehr religiös und verrichtete alle kirchlichen Zeremonien mit großem Eifer. Aber man ahnt es schon: Eines Tages würde dem Zaren das moralische Korsett, das Silvester ihm täglich aufzwang, lästig werden.



    Während die entworfenen Reformen innerhalb des Landes verwirklicht wurden, erstellte der Auserwählte Rat auch ein außenpolitisches Programm für Russland. Der Blick ging dabei nach Osten, nach Kasan. Nach dem Zerfall der Goldenen Horde waren die Tataren nicht mehr einig, aber immer noch gefährlich. Ihre Staaten, vorrangig Kasan oder die Krimtataren, waren mit ihren Überfällen und Plünderungszügen eine ständige Belastung an den russischen Grenzen. Die beweglichen Truppen der Tataren ritten bis nach Wladimir, Kostroma und sogar Wologda, machten Beute und versklavten dabei die verschleppten Einwohner, die sie in Astrachan, auf der Krim und in Mittelasien verscheuerten. Die Krim stand unter dem Schutz des Osmanischen Reiches, das war also schwierig. Aber Kasan, dort gab es seit 1546 wegen Thronfolgekämpfen einen negativen Stabilitätswert, eine tolle Gelegenheit zum Einmarschieren. Die russische Kirche proklamierte sogleich den Heiligen Krieg und der Dienstadel stimmte ein: „Es wundert uns sehr, dass der große und mächtige Zar ein solches Land unter seinem Busen duldet und noch so viel Leid von ihm empfängt. Auch wenn ein so herrliches Stück Land mit uns in Freundschaft wäre, wäre es dennoch unmöglich, eine solche Herrlichkeit nicht besitzen zu wollen.“



    Die ersten Vorstöße zwischen 1548 und 1550 waren nicht sonderlich erfolgreich, weil die Schneeschmelze die Wolga anschwellen ließ und man keine Truppen übersetzen konnte bzw. weil die Belagerung von Kasan an dem schwierigen Nachschub von Proviant scheiterte. Da Russland inzwischen über 20% Armee-Professionalität verfügte, konnte man in der Region aber Versorgungsdepots bauen, sprich: Man errichtete auf dem rechten Wolga-Ufer eine Festung.

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  6. #561
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    Ich hab mich jetzt seid Jahren mal wieder angemeldet um deine Story zu kommentieren. Du machst das wirklich großartig. Ich freue mich über jeden neuen Eintrag. Weiter so!
    Geändert von Tomulus (13. März 2020 um 09:37 Uhr)
    Die Vorhut ist zur Verstärkung der Nachhut nach hinten vorgerückt...

  7. #562
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    Vielen Dank für deine lobenden Worte, es scheint ja tatsächlich eine gute Anzahl stiller Mitleser zu geben, die diese Story verfolgen. Derzeit habe ich beruflich eine Menge zu tun (ich bin bei einem Lebenmittelproduzenten beschäftigt, der aktuell spürbar gebraucht wird), aber zum Glück habe ich noch ein gewisses Puffer für die Story, so dass die regelmäßigen Einträge nicht abreißen. Das übrigens auch mein Rat für Storyschreiber: Hochrechnen, wie lange die Geschichte wird, wenn man sie in ihrer anfänglichen Ausführlichkeit fortsetzen möchte und entsprechende Reserven für Schreibpausen vorbereiten, bevor man die Story im Forum eröffnet.
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  8. #563
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    Iwan IV. Grosny

    Beim dritten Anlauf im Jahre 1552 konnten die Russen die Hauptstadt Kasan erfolgreich belagern und einnehmen. Damit war ganz Kasan auf einen Schlag in russischer Hand, dank der russischen nationalen Idee, Ansprüche auf ganze Staaten statt nur auf einzelne Provinzen formulieren zu können. Und obwohl Iwan IV. bei dem Feldzug keine besondere militärische Begabung an den Tag gelegt hatte (diese Ehre gebührt dem Fürsten Gorbaty), war dem Zaren in seiner Heimat der Ruhm sicher. Er hatte während seiner bisherigen Regierungszeit das Reichsgebiet auf mehr als 5,4 Mio. Quadratkilometer verdoppelt.

    Vier Jahre lang musste man sich in Kasan mit den üblichen nationalistischen Unruheprozenten herumplagen, dann folgte 1556 die Einnahme von Astrachan. Das war das Ende der 300jährigen Herrschaft der Horde zwischen Kaukasus und Sibirien. Russland hatte die Lebensader, die für den Handel so wichtige Wolga unter seine Kontrolle gebracht. Angesichts der neuen Machtverhältnisse schlossen sich die Baschkiren den Russen freiwillig an, und die Herrscher der Nogai-Horde, des Khanats Sibir sowie die Fürsten des Nordkaukasus erklärten sich zu Vasallen des russischen Zaren. Das war ein echter lucky punch. Die Wolgavölker, die von der Unterdrückung durch die tatarischen Herren befreit worden waren, durften sich auf die Knechtschaft unter dem russischen Zaren freuen.



    So, das war also ein guter Start für Iwan, obwohl er eine einsame Kindheit erlebt hatte und zu Beginn seiner Herrschaft einen kleinen Aufstand zu bewältigen hatte. Die Reformen griffen, machten Russland stark genug, sich Kasan vorzuknöpfen. Er war als Zar ziemlich beliebt, außer bei denen natürlich, deren Einfluss er beschnitten hatte. Wer zu ihm stand und wer nicht, stellte Iwan IV. für sich fest, als er bald darauf schwer erkrankte. Kurz zuvor hatte seine geliebte Frau Anastassija den gemeinsamen Sohn Dmitri geboren, den neuen Thronfolger Russlands. Doch Anfang 1553 stand es schlecht um Iwans Gesundheit, er litt an einem „schweren feurigen Leiden“ und erkannte die Menschen um sich herum nicht mehr. Täglich rechnete man mit seinem Tod. Am 11. März 1553 schworen die ranghöchsten Bojaren dem Baby-Thronfolger Dmitri brav die Treue. Am nächsten Tag sollte die Bojaren-Duma sowie die Moskauer Beamten das gleiche tun. Iwan selbst schleppte sich in die Duma, um sich von dem Treueschwur zu überzeugen. Sein Misstrauen war offenbar angebracht: Statt den Eid zu leisten, gab es darüber Debatten in der Duma, die Iwan IV. mit einem Machtwort stoppen musste. Erst nach den harten Worten des Herrschers begaben sich die erschrockenen Bojaren in das Vorzimmer, um das Kreuz zu küssen (damit wurde der Eid geleistet).

    Diejenigen, die in der Duma diese Debatte geführt hatten, verteidigten sich mit dem Hinweis, es sei zunächst lediglich um die protokollarische Frage gegangen, wer aus dem Kreis der Bojaren die Zeremonie leiten dürfe. Und außerdem habe man nur darauf bestanden, das Kreuz nicht im Vorzimmer, sondern im Beisein des Zaren küssen zu dürfen. Dass man den Eid auf Dmitris Thronfolge leisten wolle, habe gar nicht zur Debatte gestanden. Diese Darstellung ist aus heutiger Sicht ziemlich unwahrscheinlich. Vermutlich hatten sich die Bojaren ganz einfach Hoffnungen darauf gemacht, im Fall von Iwans Tod die Macht zu ergreifen. Nicht umsonst hatte der Fürst Starizki vorsorglich seine Truppen nach Moskau mitgebracht, er war auch derjenige, der erst einen Tag nach der Duma-Sitzung und unter Protest den Schwur auf den kleinen Dmitri leistete. Starizki nervte es, dass Iwans Frau die Regentschaft führen sollte. Anastassija stammte aus der Dynastie der Romanows, sollten die nach Iwans Tod etwa freie Bahn erhalten, sich das Land anzueignen? Vergleichbares hatten die Bojaren schon einmal beim Tod des vorherigen Zaren und der Herrschaft von dessen Frau Jelena erlebt! Nicht wenige Bojaren fühlten mit Starizki, hielten vorerst aber lieber den Mund. Einige hatten es vorgezogen, sich mit Krankheit zu entschuldigen und gar nicht erst in Moskau zu erscheinen, um dem Schwur aus dem Weg zu gehen.

    Angesichts dieser Uneinigkeit ging hinter den Kulissen der Machtpoker los. Wer würde sich auf den Thron setzen wollen, wenn Iwan erst einmal tot war? Auf wessen Seite würde sich die russische Kirche schlagen? Was die kühnen Ränkeschmieden nicht berücksichtigten, war die Möglichkeit, dass der Zar sich wieder von seiner Krankheit erholen könnte. Genau das geschah nämlich, Iwan IV. kam wieder zu Kräften, die Thronfolgefrage war nicht mehr akut. Der Zar hatte von den Umsturzplänen der Bojaren Wind bekommen, daher fragte er den reaktionären Popen Toporkow folgende Frage: „Wie könnte ich ein guter Herrscher sein, die Großen und Mächtigen meiner Untertanen jedoch zum Gehorsam zwingen?“ Toporkow empfahl dem Zaren, unbedingt den Einfluss der Bojaren zu beschränken, wobei der Kleriker nicht nur vor dem Hochadel warnte, sondern auch vor Kirchenlehren, die von der offiziellen Linie abwichen. Zum Beispiel die der ketzerischen Uneigennützigen, die der Kirche ihr Recht auf ihre Ländereien absprechen wollten. Überhaupt würde die Häresie in Russland um sich greifen, das bestätigte auch Protopope Silvester: Es gebe sogar Bojaren, die in den Ikonen „verdammte Götzen“ sehen würden, die offizielle Kirche schmähten und sogar die Bibel als Fabel bezeichnen würden. Das waren für Iwan IV. genügend Gründe, mit jenen Bojaren abzurechnen, die sich als wenig loyal erwiesen hatten. Manche landeten im Kerker, einige auf dem Scheiterhaufen, weitere wurden mit Stockhieben bestraft und nach Beloosero verbannt.

    Gerne hätte Iwan IV. diesen Bojaren schlimmeres angetan, aber mehr war unter den gegebenen Umständen nicht drin. Zumindest nicht im Rahmen der traditionellen politischen Ordnung. Dies sollte schließlich der Grund dafür sein, dass Iwans Begeisterung für die bisherigen Reformpläne merklich zurückging. Es war verlockender, seine Alleinherrschaft und Zarenmacht zu verstärken, indem er die Überreste der Bojaren-Regierung ausmerzte. Schluss also mit den Reformen! Es war ebenso ungerecht wie konsequent, dass Iwan IV. den Mitgliedern des Auserwählten Rates nun schlimme Vorwürfe wegen ihrer bisher erfolgreichen Arbeiten machte: „Durch Euch kamen die Bojaren zur Macht, Ihr verführtet sie zur Eigenmächtigkeit, es gelangten sogar die jungen Bojarenkinder zur Ehre, und so geschah all das Böse!“ Dabei hatten der Zar und der Auserwählte Rat jahrelang gemeinsam gearbeitet hatte. So oder so: Der Bruch war getan.

    In dem Maße, wie der Einfluss von Adaschew und Silvester nachließ, änderte sich auch die allgemeine Ausrichtung der Außenpolitik. Moskau nahm die Friedensvorschläge des Krimkhanats an und sandte seine Streitkräfte Richtung Livland.



    Russland sollte einen eisfreien Ostseehafen bekommen, mehr Einfluss auf den Handelsknoten, der nach Lübeck und andere wichtige Knotenpunkte im Westen führte. Den Job des Woiwoden (Heerführers) in Livland sollte ein enger Freund des Zaren übernehmen, Fürst Kurbski. Ihm folgte Adaschew an die Front, während Silvester den Gang ins Kloster antrat. Nach anfänglichen Erfolgen kam der russsische Vormarsch hier aber zum Stehen. Es war ungleich schwieriger, in Livland große Siege zu erringen, als es gegen die Tataren der Fall gewesen war. Im Westen waren nämlich Schweden, Dänemark und vor allem Polen-Litauen direkt mit von der Partie, da wollte sich jeder sein Stück von Livland sichern. So nahmen die Dänen im April 1560 die Insel Ösel ein, einen Monat später ging Reval (heute: Tallinn) an Schweden.

    Jemand musste Schuld an dem ausbleibenden Erfolg haben, beschloss Iwan IV. im Jahre 1560. Er befahl Adaschew, in Moskau zu erscheinen und sich vor Gericht zu verantworten. Silvester und die Bojaren warnten den Zaren, Adaschew sei bei den Fürsten und beim Volk sehr beliebt, eine Anklage wäre nicht klug. In dieser Situation traf Iwan ein schlimmer Schicksalsschlag: Seine geliebte Frau Anastassija starb im August. Sogleich wurden Gerüchte in Umlauf gesetzt, ihre Neider unter den Bojaren hätten sie durch Zaubereien verhext und ins Verderben gestürzt (moderne Untersuchungen an ihrem Skelett haben tatsächlich ergeben, dass sie vergiftet worden war). erdacht fiel auf Silvester und Adaschew. Während Silvester in ein abgelegenes Kloster verbannt wurde, geriet Adaschew in den Kerker, wo er zwei Monate später an einem „feurigen Leiden“ starb. Iwan IV. war wütend, weil er vermutete, Adaschew habe sich durch Selbstmord seiner Bestrafung entzogen.

    Durch den Tod seiner Frau verlor der Zar eine wichtige Stütze in seinem Leben, Anstassija hatte stets einen mäßigenden Einfluss auf Iwans Temperament gehabt. Niemand drosselte mehr Iwans Jähzorn und Misstrauen. Zugleich gerieten die Werte, die die beseitigten alten Berater wie Silvester gepredigt hatten, in Verruf. Üppige Gelage und ausgelassene Vergnügungen lösten die triste Askese im Kreml ab. Der Zar lud Bojaren in seinen Palast und zwang sie zu Saufgelagen. Wer beim Komasaufen nicht mitmachen wollte, dem wurde eine feindliche Gesinnung vorgeworfen: „Geist und Sitte“ von Silvester und Adaschew würden in ihm fortleben. Die Strenggläubigen runzelten angesichts des maßlosen Gebarens ihres Herrschers die Stirn. Quatsch, konterte Iwan, er wolle auf diese Weise doch nur seine Beziehungen zum Adel verbessern. Der Tod der Zarin hatte den moralischen Kompass des Herrschers offenbar ins Trudeln gebracht. Nun gut, das ist schon vielen Leuten passiert, bei einem Mann mit solcher Macht war das aber eine gefährliche Sache. Man kann die Regierungszeit von Iwan IV. grundsätzlich in zwei Hälften unterteilen, mit dem Tod seiner Frau im Jahre 1560 als Wendepunkt: Vorher der Reformer, nachher der Tyrann. Phase Zwei in Iwans Herrschaft: „Der Terror“.

    Drängend fand Iwan IV. zum einen das Ausbleiben eines Erfolges in Livland. Russland musste seinen freien Zugang zur Ostsee erkämpfen, durfte das Baltikum nicht den Konkurrenten überlassen. Sonst bliebe dem Zaren nur das Weiße Meer im Norden, um Seehandel zu betreiben. Ein wenig attraktiver Handelsknoten, weil diese Route regelmäßig vereist war. Also was tun wegen Livland? Iwan schloss mit Dänemark einen Bündnisvertrag, schloss mit Schweden einen Waffenstillstand von 20 Jahren und konzentrierte sich auf den Rivalen Polen-Litauen. Die russischen Heerführer beschlossen, zunächst Polozk einzunehmen, eine strategische Grenzfestung auf dem Weg zur litauischen Hauptstadt Wilna. Der ganze Feldzug lief eher chaotisch ab, erreichte aber sein Ziel, Polozk fiel im Februar 1563 an die Russen.



    Das war der bisher größte Erfolg und Höhepunkt des russischen Kriegs um Livland. Politisch gesichert werden konnte er indes nicht. Iwan IV. zerstritt sich mit König Erik XIV. von Schweden, weil der seinerseits bei einer livländischen Grenzfestung zugegriffen hatte. Der Zar schrieb dem schwedischen König einen derart groben Brief, dass ein Bruch eigentlich unausweichlich war. Erik XIV. verzichtete nur deshalb auf eine entsprechende Antwort, weil ihm daheim das Wasser bis zum Hals stand. Einen vergleichbar beleidigenden Brief, den Iwan an den verbündeten dänischen König richtete, ließen die Diplomaten lieber verschwinden, weil sie nicht wagten, ihn zuzustellen. Nach der Einnahme von Polozk sollte der Vormarsch weitergehen, und zwar nach Minsk. Die Litauer blieben nicht untätig, offenbar kannten sie die militärischen Pläne der Russen. Sie konterten die Truppen des Zaren aus und schlugen sie. Die russische Position in Livland war danach recht schwierig. Oha, dachten sich die Krim-Tataren, die das ganze aus der Ferne beobachteten, und legten die laufenden Bündnisverhandlungen mit Moskau auf Eis. Der neue Politik-Stil, den Iwan höchstpersönlich eingeführt hatte, war also nicht besonders erfolgreich.

    Unter den Bojaren, denen Iwan deshalb nun wieder Vorwürfe machte, machte sich Unmut breit. Einige von ihnen wurden verhaftet, darunter ein Bojar namens Belski. Brisant wurde es, als der Zar einen der Bojaren, Wisniewezki, seines Amtes als Statthalter von Tscherkassy enthob. Dieser Fürst nahm daraufhin Geheimverhandlungen mit Litauen auf und floh über die Grenze dorthin. Iwans Misstrauen brannte voll auf, jetzt wurden umfangreiche Untersuchungen angestellt und geheime Papiere bei verschiedenen Bojaren sichergestellt, aus denen Kontakte zum litauischen Feind hervorgingen. Die ganze Affäre geriet zu einer Generalabrechnung mit allen Bojaren, die die inzwischen verfemte Politik des Auserwählten Rats unterstützt hatten. Viele Verhaftete wurden gefoltert oder in die Provinz und in entlegene Städte verbannt. Das Land, dessen politische Atmosphäre durch die Ereignisse äußerst gespannt war, wurde von einer ersten Welle des Terrors ergriffen.

    Die nun beginnenden Repressalien rückten eine neue Person in den Vordergrund, den Bojaren Alexej Basmanow-Pletschejew. Er stammte aus einer Familie, die den Herrschern schon immer nahe gestanden hatte. Sein Vater war einst Kämmerer bei Iwans Vater gewesen. Alexej selbst hatte sich beim militärischen Dienst durch besondere Tapferkeit in Kasan hervorgetan. In den ersten Tagen des Livländischen Kriegs hatte er mit nur wenigen Streitkräften die Festung von Narva gestürmt, die als uneinnehmbar gegolten hatte. Basmanow, der einer der Initiatoren des Krieges um das Baltikum war, fand Iwans Zuneigung und wurde in der Folgezeit zu seinem Hauptberater (und vermutlich wurde er sogar Iwans Liebhaber).



    Er war der kommende Mann und stieg ganz bei der gewünschten Verfolgung des Hochadels ein. Weil der Krieg im Westen weiter schlecht lief, musste es bestimmt weitere Verräter in den eigenen Reihen geben. Basmanow tötete mit Iwans Einverständnis zwei beschuldigte Fürsten, die sich noch vor kurzem bei Polozk als Kriegshelden erwiesen hatten. Das war auch für Kurbski, dem alten Freund des Zaren, der den Feldzug in Livland leitete, zu viel. Er haute in einer Nacht und Nebel Aktion ab und setzte sich nach Litauen zum König ab. Iwan IV. muss davon persönlich schwer getroffen worden sein, ausgerechnet sein alter Freund war ein Verräter! Es gibt einen langjährigen wütenden Briefwechsel zwischen Kurbski und Iwan, der sehr interessant ist, weil beide Seiten ausführlich ihre Ziele benennen und rechtfertigen bzw. einander kritisieren. Nach neuerer Meinung ist der Briefwechsel allerdings zu großen Teilen nicht authentisch. Und als Ende des Jahres 1563 mit dem Metropoliten Makari die letzte Autorität früherer Jahre starb, gab es endgültig niemanden mehr, der dem Zaren in dessen Rachsucht noch in den Arm fallen konnte.

    Einige Zeit lang muss Iwan IV. überlegt haben, wie er die Macht der Bojaren vollständig brechen könnte, um wahrhaftiger Alleinherrscher zu werden. In düsterer Stimmung saß er monatelang im Kreml. Dann, am 3. Dezember 1564, entschloss er sich zu einem ungewöhnlichen Schritt: Er verließ Moskau mit einigen hundert Schlitten und verschwand in den Wäldern. Mit ihm gingen seine Familie, das Gefolge und die wertvollen Schätze und Ikonen der Moskauer Klöster. Der Adel und das Bürgertum Moskaus waren verwirrt und beunruhigt. Warum und wohin hatte sie der von Gott Gesalbte bloß verlassen? Russland war führungslos!
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    Und durch seine Klugheit wird ihm der Betrug geraten, und er wird sich in seinem Herzen erheben, und mitten im Frieden wird er viele verderben und wird sich auflehnen wider den Fürsten allen Fürsten.

  9. #564
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    Iwan IV. Grosny

    Wochenlang irrte der Zarenzug durch die Wälder. Erst Anfang 1565 erfuhren die Moskauer, dass der Zar sich in der Festung Alexandrowskaja Sloboda aufhielt, 100 Kilometer nordöstlich von Moskau. „Aus großem Herzenskummer“ habe er die Hauptstadt verlassen, schrieb der Zar. Durchaus korrekt war, dass Iwan IV. körperlich schlecht ausgesehen hatte. Vom Verstand her war er aber klar, sein Schritt war gut durchdacht. Er entsage dem Thron, schrieb Iwan, weil die Bojaren und hohen Geistlichen in aus seinem Besitz vertrieben hätten. Dem Volk von Moskau sei er aber weder böse noch ungnädig. Iwans Boten verlasen diesen Brief vor den Menschen auf dem Platz vor dem Kreml. Ein genialer Schachzug: Unter den Bojaren hatte Iwan IV. zwar viele Gegner, doch niemand war ernsthaft darauf vorbereitet, den verwaisten Thron zu okkupieren.

    Die Hochadeligen und die Kirchenmänner brachte Iwan IV. mit dieser Ankündigung in arge Bedrängnis: Er hatte mit seiner Gnadenzusicherung gegenüber den Moskauer Bürgern das Volk nicht nur auf seiner Seite, er forderte es geradezu auf, sich gegen die Adeligen zu erheben, weil diese die Verantwortung für die Abdankung des Gottgesalbten trügen. Eilig schickten die Bürger der Stadt eine Delegation nach Sloboda und baten den Zaren fußfällig um seine Rückkehr. Den Bojaren blieb nichts anderes übrig, als ähnlich demütige Abgesandte zur Festung zu schicken, da ihnen sonst ein Aufstand in Moskau drohte. Die Erpressung wirkte. Mitte Februar 1565 kehrte Iwan zurück. Mit sich führte er nicht nur die Insignien des Zaren und die wundertätigen Kirchenschätze, sondern auch die Zusage der verängstigten Bojaren, er dürfe jeden „ungehorsamen“ Adeligen sofort vernichten. Und genau das hatte Iwan IV. vor. Iwan IV. nahm jetzt Rache an dem mächtigen Erbadel, der ihn in seiner Kindheit so häufig gedemütigt hatte. Die Privilegien der Bojaren zerbröselten, und in Russland sollte nur noch ein Wille gelten – der des Zaren.



    Um den Hochadel mundtot zu machen, brauchte der Zar die Unterstützung des Dienstadels. Es wäre möglich gewesen, einfach wieder an den Kurs der bisherigen Reformen anzuknüpfen, um den Dienstadel für sich zu gewinnen. Doch Iwan IV. entschied sich für einen anderen Weg, er bediente sich nur eines Teils der Dienstadeligen und stellte aus diesen Personen eine Polizeimacht auf, die im Vergleich zur Mehrheit des Dienstadels alle möglichen Vorrechte genossen. Diese Organisation hieß Opritschnina, zu deutsch „das Abgesonderte“, ein Begriff, der ursprünglich den separaten Erbteil für eine Witwe bezeichnete. Die im Stile eines Teilfürstentums (vergleichbar mit einem Herzogtum) organisierte Opritschnina war der persönliche Besitz des Zaren, sie hatte eine eigene Duma, eine eigene Verwaltung und eigene Truppen, die Opritschniken. Das war eine Art persönliche Garde und Staatspolizei, ein Staat im Staate, der nur dem Zaren gehorchte. Der Hochadel verachtete die „neugemachten“ Herrschaften und nannte sie elende Bauerntrottel. Selbst Iwan war hier nicht frei von Vorurteilen, er meinte später, er habe sich notgedrungen mit Bauern und Knechten umgeben müssen.



    Doch das aus dem niederen Adel zusammengestellte Opritschnina-Heer war nach Auffassung des Zaren ein zuverlässiges Werkzeug zur Bekämpfung der hochadeligen Opposition. Bei der Aufnahme in die Opritschnina schwor jedes neue Mitglied, Verschwörungen gegen den Zaren aufzudecken und nichts Böses zu verschweigen, was ihm zu Ohren kommen sollte. Die neuen Vasallen des Zaren trugen schwarze Kleidung aus grobem Stoff, am Gürtel einen Handbesen und einen Hundekopf. Das war das Zeichen ihres Versprechens, Russland von all seinen Verrätern zu säubern. Und sie machten Karriere: Unliebsame Adelige wurden verhaftet und in das unruhige Kasan verbannt. Sollten die Verräter doch dort bei Tataren zusehen, dass sie sich durchsetzen. Ihr eigentlicher Grundbesitz in Russland wurde beschlagnahmt und unter den Mitgliedern der Opritschnina aufgeteilt. Kein Wunder, dass die rund 1.500 Opritschniken eifrig nach Abweichlern suchten, die sie um ihr Land erleichtern konnten. Der Zar hatte ihnen ja ausdrücklich erlaubt, seine Feinde straflos umbringen und ausplündern zu dürfen.

    Im zweiten Jahr der Opritschnina wurden zunächst die Kriegshandlungen im Westen und dann später im Süden des Moskauer Reiches eingestellt, es lief sowieso nicht gut. Eine hohe Gesandtschaft Polens traf ein, im Friedensverhandlungen zu führen. Sie schlug einen Waffenstillstand vor, bei dem der Status quo erhalten bleiben sollte. Die russischen Unterhändler forderten, dass der Seehafen von Riga an Moskau abgetreten werde. Die Verhandlungen gerieten in eine Sackgasse. Die Stände unterstützten ihren Zaren darin, man sei zu neuen Opfern bereit, um eine Abtretung der livländischen Gebiete zu vermeiden.



    Angesichts des Terrors der Opritschnina hört sich das ungewöhnlich an. Doch Iwan IV. reagierte Anfang 1566 tatsächlich mit einer Lockerung der Repressionen. Die Hinrichtungen hörten auf, und die Behörden sprachen Begnadigungen für viele der Beschuldigten aus, einige durften sogar aus Kasan in zurückkehren. Nicht unbedingt auf ihr altes Stammland, es musste also ein Ersatz gefunden werden.

    Der Hochadel und der Klerus schöpften sogleich Hoffnung darauf, dass alles so werden könnte wie früher. Vielleicht konnte man den Zar davon überzeugen, die Opritschnina gänzlich fallenzulassen. Als Vertreter der Kirche machte der Metropolit Druck auf Iwan: Der erste trat demonstrativ zurück und ging ins Kloster, der nächste bequatschte den Zaren, sich von der Opritschnina zu trennen. Die Opritschniken schlugen zurück und vertrieben diesen Geistlichen nach wenigen Tagen aus dem Amt. Nun war der dritte Metropolit innerhalb kurzer Zeit im Amt (Filipp), und der vertrat die gleiche Linie. Iwan IV. musste sich etwas überlegen, wenn er die Kirche nicht weiter gegen sich aufbringen wollte. Der Zar schwankte hin und her: Sollte er die beschuldigten Adeligen begnadigen oder weiter der Gewalt der Opritschnina ausliefern?

    Er entschied sich für das letztere. Den Ausschlag gab die Aufdeckung einer neuerlichen Verschwörung aus Kreisen der Bojaren und Kleriker. Die Behörden waren nicht nur über die Größe dieser Opposition erstaunt, sondern auch darüber, dass dieser Protest vom loyalsten Teil der Duma und der kirchlichen Leitung ausging. Der Zar war von all dem erschüttert. Er musste sich selbst eingestehen, dass alle Versuche, die Situation durch Zugeständnisse zu stabilisieren, gescheitert waren und die soziale Basis der Regierung zunehmend zusammenschrumpfte. Iwan IV. reagierte darauf, indem er die Opritschnina personell und territorial vergrößerte. Kostroma wurde dem Opritschnina-Gebiet hinzugefügt, an ihren Zentren Schlösser und Festungen gebaut. Auch innerhalb des Kreml plante Iwan IV. zunächst, einen Opritschnina-Hof errichten zu lassen. Dann hielt er es jedoch für ratsam, seine Residenz in die Opritschnina-Hälfte von Moskau zu verlegen, „außerhalb der Stadt“, wie man damals zu sagen pflegte. Unweit der Kremlmauer (in Schussweite) wurde innerhalb von sechs Monaten ein mächtiger Palast errichtet. Eine hohe Steinmauer schirmte ihn nach außen ab. Das mit Eisen beschlagene, dem Kreml zugewandte Tor schmückte die Figur eines Löwen, dessen aufgerissener Rachen in Richtung Semstschina zeigte. Die Palastspitzen wurden mit schwarzen Doppeladlern gekrönt. Tag und Nacht hielten mehrere hundert Opritschniki-Schützen auf seinen Mauern Wache.

    Im gebührenden Abstand zu Moskau wurde außerdem die Festung in Sloboda ausgebaut, sie wurde zur eigentlichen Hauptstadt der Opritschnina. Sie erhielt eine mächtige Steinmauer mit zehn Türmen, alleine an Kanonen wurden aus dem Moskauer Arsenal rund 300 Stück nach Sloboda gebracht. Innerhalb ihrer Mauern entstand die grandiose Entschlafungs-Kathedrale, wo der Zar mit seinen Opritschniken regelmäßig seine Messen abhielt. Die ganze Terrororganisation lebte und arbeitete in diesen Festungsmauern nach Art eines Schwarzen Ordens, einer Bruderschaft. Man wohnte dort in Zellen, trug schwarze Kutten und hielt stundenlange Gottesdienst ab. Iwan IV. selbst besuchte sein „Kloster“ Sloboda regelmäßig für mehrere Tage, um zwischendurch dieses Leben als Mönch zu führen.

    Mir drängt sich der Gedanke auf, dass die Opritschnina ein neuzeitlicher Vorläufer von NKWD, Gestapo oder auch SS gewesen ist. Ihre Funktion lag nämlich eher im Inneren des Landes, weniger in der Kriegsführung mit feindlichen Nachbarstaaten. Der Zar und die Opritschniki fürchteten sich vor inneren Wirren und wollten, falls es zu einer Erhebung der mächtigen Semstnina-Bojaren kommen sollte, diese sofort mit militärischer Gewalt niederschlagen. Dass Iwan IV. eine erzwungene Abdankung für möglich hielt, zeigen zwei Pläne, die er für diesen Fall über die Jahre hinweg stets im Blick hatte: Entweder in ein Kloster zu gehen, oder – und das war sein Steckenpferd – ein Bündnis mit England einzugehen, und dort im Notfall Asyl zu erhalten. Iwan IV. ging dabei so weit, dass er im Laufe der Zeit mehrfach seine Heirat mit der englischen Königin Elisabeth I. vorschlug. Bekanntermaßen kam es weder zu dieser Heirat noch zu der Verbindung des Zaren mit einer anderen englischen Adeligen.

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  10. #565
    Hamburg! Avatar von [DM]
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    Mal wieder ist alles sehr informativ.
    Man hört ja immer das Iwan nun mal der Schreckliche heißt, aber was er konkret getan hat und was seine Beweggründe waren davon weiß man eher nichts.
    Zitat Zitat von Bassewitz Beitrag anzeigen
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    Zitat Zitat von Bassewitz Beitrag anzeigen
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  11. #566
    Ewig unbezähmbar! Avatar von LegatBashir
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  12. #567
    Registrierter Benutzer Avatar von Mark
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    Iwan IV. Grosny

    Man kann sich leicht vorstellen, wie sich die Adeligen misstrauisch fragten, was der Zar ständig da draußen treibt mit seinen schwarzgekleideten Mordbuben. Ihnen war klar, dass die Opritschnina weg musste, und das ging offenbar nur, wenn auch der Zar beseitigt wurde. An dieser Stelle setzte der äußere Gegner Polen-Litauen an. Militärisch war Russland ja nicht zu bezwingen, aber man konnte ja die innere Uneinigkeit ausnutzen. Die Semstschina sollte sich mit Waffengewalt erheben, Litauen mit Truppen zur Hilfe kommen. Die Sache wurde heimlich genauer ausgearbeitet, da bekam einer der Bojaren im Grenzgebiet Schiss und lieferte einen polnischen Spion an den Zaren aus.



    Iwan IV. leitete sofort die „Ermittlung des Verrats“ ein. Eigentlich war bei den meisten Bojaren nicht klar, wer unter ihnen lediglich unzufrieden war, und bei wem es bereits mit dem Verrat losging. Bis heute ist unklar, ob es überhaupt eine echte Verschwörung gegen den Zaren gegeben hat. Es gab da bloßes Gerede zwischen unzufriedenen Bojaren, einige flüchteten aus Angst ins ausländische Exil. Eine regelrechte Revolte, einen Putsch, Armeemeutereien oder einen Attentatsversuch auf den Zaren hat es nie gegeben.

    Dem Zaren fehlten echte Beweise für eine breite Verschwörung, trotzdem griff er durch. Es reichte bereits aus, dass ein Mann ein vertrauensvolles Verhältnis zu einem verdächtigen Bojaren hatte, um selbst in das Räderwerk der Opritschnina zu geraten. Glücklich war der Adelige, der mit einer Verbannung in eine ferne Grenzregion davonkam. Meistens befahl der Zar seinen Schergen, die „Mitverschwörer“ auf der Stelle hinzurichten. Sie wurden wahlweise geköpft, gepfählt, auf riesigen Bratpfannen geröstet, abwechselnd mit siedendem und eiskaltem Wasser übergossen. Der Stallmeister des Zaren wurde im Kreml erstochen, seine Leiche landete auf dem Müllhaufen. Ein Mönch wurde an ein Pulverfass gebunden, beim Entzünden der Lunte höhnte Iwan: „So gelangst Du schneller in den Himmel!“

    Es begann eine dreijährige blutige Terrorperiode der Opritschnina, unter der sogar die Moskauer Chronisten verstummten. Es waren die Opritschniken, die ausführliche Register über ihre Taten führten, auch dies eine Parallele zu den modernen Terrorapparaten. Diese Register sind zwar verloren gegangen, aber der Zar ließ aus diesen Listen später, vor seinem Tod, aus Reue ein Seelenmessenregister anfertigen. Darin wurden die Namen aller Getöteten aufgeführt, für deren Seelen in den Kirchen „auf ewig“ gebetet werden sollte. Teilweise finden sich in dieser Liste nur Vornamen oder z.B. die Formulierung, Gott solle „der 15 Hingerichteten aus dem Ort XY gedenken“. Insgesamt stehen in dem Seelenmessenregister über dreitausend Personen.

    Nach diesen Hinrichtungen verkündeten Boten (und russische Diplomaten im Ausland) die Propaganda des Zaren und beschrieben in allen Einzelheiten die „Vergehen“ der Toten. Manchen besonders prominenten Opfern wurde unter fadenscheinigen Vorwürfen wie Hochverrat oder wegen „abscheulichen und gottlosen Taten“ ein Schauprozess gemacht. Und immer wurde das Vermögen der Opfer beschlagnahmt, zu Gunsten des Zaren und der Opritschniken, für die die Denunziation reicher Adeliger zu einer wichtigen Einnahmequelle wurde. Die Empörung der Adeligen darüber führte zu weiteren Anklagen und Verurteilungen. Gründe fanden sich immer: Korruption gab es genügend – Anklage! Der Feldzug in Livland stagnierte – die Straßen für den Kanonentransport waren nicht vernünftig instandgehalten worden – Anklage! Jemand hatte die Politik des Zaren oder seiner Schergen kritisiert – Hochverrat!



    Im Frühjahr 1568 nahmen die Repressalien der Opritschnina bedrohliche Maße an. Man köpfte Adelige inzwischen ohne Gerichtsverfahren, der Zar war den mahnenden Worten einiger mutiger Herren, darunter der Kleriker Filipp, nicht zugänglich. Der Metropolit Filipp entschloss sich nun, trotz seines Eides offen gegen die Opritschnina aufzutreten. Er versuchte, sie während zweier Gottesdienste in Anwesenheit des Zaren öffentlich anzuprangern. Filipp richtete seine Predigt direkt an Iwan IV. und ermahnte ihn, „das Begonnene sein zu lassen“, die Opritschnina aufzuheben und ihre Gebiete wieder mit der Semtschnina zu vereinigen („... nicht aber Dein Reich aufzuteilen, denn es ist einheitlich“) und die Repressalien zu beenden. Die Antwort des Zaren blieb nicht aus: „Was gehen dich, einen Mönch, unsere Zarenberatungen an? Weißt Du denn nicht, dass mir meine eigenen Untertanen nach dem Leben trachten? Auch meine Nächsten wandten sich von mir ab, trachten mir nach dem Leben und wollen mir Böses tun.“ Zornig schlug Iwan mit seinem eisernen Zepter auf den Boden und brüllte: „Ich bin zu weichherzig dir, Metropolit, deinen Anhängern und meinem Land gegenüber gewesen, jetzt aber werdet ihr aufheulen!“ Offenbar hatte Filipp mit dieser Reaktion gerechnet. Im Bewusstsein, dass der Adel hinter ihm stand, weigerte sich der Kleriker dreimal, den Herrscher wie gewünscht zu segnen. Und das vor allen Leuten!

    Basmanow, Iwans mutmaßlicher Liebhaber und Chef der Opritschnina, warnte den Zaren, er dürfe nun auf gar keinen Fall Schwäche zeigen. Iwan gab ihm recht, man müsse noch mehr Terror anwenden, um die Krise zu bewältigen. Man vergriff sich nicht direkt an den Kirchenführer, erst einmal nur an seinen Beratern. Diese wurden verhaftetet, eingekerkert, und schließlich durch die Straßen von Moskau geschleift, wobei man sie mit Eisenruten totschlug. Ähnlich lief es bei Bojaren ab, die dem Zaren zu mächtig erschienen, als dass er sie direkt angreifen konnte. Hier ließ er Pogrome in deren Ländereien veranstalten, bei denen so mancher Untertan und Gefolgsmann der Bojaren erhängt oder erschlagen wurde. Diese „Strafexpeditionen“ führte Iwan IV. teilweise persönlich an, es ging natürlich nur um die Verfolgung von „Verrätern“. Unter der Folter gestanden viele natürlich diesen Vorwurf und sie nannten angebliche Mitverschwörer. So drehte sich das Blutrad immer weiter. Wenn ein Bojar weniger mächtig war, dann traf ihn der Zorn des Zaren unmittelbar. So erdreistete sich der Adelige Mitnew während eines Gastmahls im Kreml, Iwan ins Gesicht zu sagen: „Zar, fürwahr, da du, Verfluchter, selbst Honig trinkst, der mit dem Blut unserer Brüder vermischt ist, willst du nun auch uns dazu nötigen, es dir gleichzutun!“ Die Opritschniki brachten ihn auf der Stelle um.

    Im Sommer 1568 veränderte sich die außenpolitische und militärische Lage Moskaus sehr zu dessen Nachteil. Bereits im Dezember 1567 hatte die Krim in ultimativer Form von den Russen gefordert, die russischen Befestigungen am Terek zu schleifen sowie Kasan und Astrachan aufzugeben. Der drohende Krieg mit der Krim und den Osmanen war eine der Hauptursachen dafür gewesen, dass der Feldzug gegen die Litauer 1567 misslang. Türken und Tataren machten sich bereit zum Einmarschieren in Russland, 1569 sollte es losgehen. Russland musste zusehen, Frieden mit Litauen zu schließen, um sich dagegen zu wappnen. König Sigismund von Polen-Litauen erkannte die günstige Situation und ließ seine Truppen erst recht zuschlagen, bald standen sie kurz vor Polozk.



    Auch in Schweden änderte man seine Haltung, der geisteskranke König Erik XIV. wurde gestürzt. Sein Nachfolger Johann III. war ein Todfeind Moskaus, der sich nicht länger an den Friedensvertrag mit Iwan IV. gebunden fühlte. Russland sah sich also von drei Seiten einem Angriff gegenüber. Iwans Hoffnung, ein Bündnis mit England zu schließen, war weiterhin nicht realistisch. Moskau war außenpolitisch isoliert und im Inneren vom Terror zerrüttet.
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    Und durch seine Klugheit wird ihm der Betrug geraten, und er wird sich in seinem Herzen erheben, und mitten im Frieden wird er viele verderben und wird sich auflehnen wider den Fürsten allen Fürsten.

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    Iwan IV. gelang es nicht, sein Zerwürfnis mit Filipp, dem Fürsprecher der Bojaren, zu kitten. Ein eher nichtiger Anlass führte dazu, dass Filipp sich demonstrativ in ein Kloster zurückzog: Ein Opritschniki hatte während einer Messe seine schwarze Mütze nicht abgenommen und war von Filipp zurechtgewiesen worden. Der Zar hatte dies als Beleidigung aufgefasst und zornig den Gottesdienst verlassen. Im Unterschied zu seinem Vorgänger weigerte sich Filipp aber, wegen seiner Demission den Titel des Metropoliten niederzulegen. Das ganze stellte den offenen Bruch zwischen Kirche und Zarentum dar, ein Skandal und eine handfeste Krise. Iwan IV. reagierte wie gehabt: Eine willfährige Kirchenkommission wurde beauftragt, nach moralischen Verfehlungen in Filipps Leben zu suchen, damit ein kirchliches Absetzungsverfahren gegen ihr geistliches Oberhaupt eröffnet werden konnte. Die zusammengetragenen Vorwürfe waren nur so fadenscheinig, dass man nicht wagte, diesen Schritt zu tun. Iwan IV. erkannte, dass er zunächst die mächtigen Unterstützer Filipps demontieren musste, um ihn packen zu können. So befahl der Zar am 11. September 1568 eine Zusammenkunft vieler Dienstadeliger in Moskau, bei der es um eine Gerichtsverhandlung gegen den russischen Stallmeister gehen sollte. Was sich dann ereignete, war lediglich eine Farce. Iwan IV. befahl dem Stallmeister, ein Zarengewand anzulegen und den Thron zu besteigen. Dann entblößte Iwan sein Haupt, kniete vor ihm nieder und sagte: „Nun hast Du das, was du gesucht hast und wonach du strebtest, bist Großfürst von Moskowien und nimmst meine Stelle ein. Nun bist du Großfürst, also freue dich und genieße deine Herrschaft, die du so sehr wünschtest.“ Dann gab der Zar ein Zeichen, worauf der Stallmeister erstochen wurde. Die Opritschniki schleppten den toten Bojaren aus dem Palast und warfen ihn auf einen Müllhaufen. Die Episode zeigte, dass die Opritschnina nicht in der Lage war, den Beschuldigten des Hochverrats zu überführen. So erging es zahlreichen Bojaren in ähnlichen Fällen, der Terrorapparat gab sich auch bei renommierten Fürsten keine Mühe mehr, sich den Anstrich eines Justizverfahrens zu geben. Man arbeitete nur noch stur die eigens erstellten Todeslisten ab.

    Nachdem der Zar und sein Apparat die mächtigste Opposition liquidiert hatten, war es leichter, auch den Widerstand der Kirchenleitung zu brechen. Mittels Drohungen und Versprechungen brachte man eine Gruppe um den Abt Paissi dazu, gegen Filipp auszusagen. Der Metropolit wurde wegen „abscheulicher und gottloser Taten“ schuldig gesprochen, das Urteil war ein Hohn. Filipp sah, dass seine Sache verloren war und wollte rasch zurücktreten – Iwan untersagte es ihm und befahl ihm, eine letzte Messe in seinem Beisein abzuhalten. Er wollte ein öffentliches Exempel statuieren: Während der laufenden Messe unterbrach Basmanow lautstark Filipps Predigt, verkündete dessen Absetzung aufgrund des Urteils und ließ den Kleriker vor allen Leuten das festliche Gewand vom Leibe reißen. Als Nachfolger stand bereits ein Mann namens Kyrill bereit. Filipp selbst wurde einige Zeit später in seiner Klosterzelle erdrosselt, und dann dem zuständigen Abt zynisch vorgeworfen, Filipp sei an der „vorschriftswidrigen“ stickigen Zellenluft gestorben.


    Der Opritschnina-Führer Malyuta Skuratow „besucht“ Fillip II. in dessen Klosterzelle

    Nach der Beseitigung Filipps und weiterer Oppositioneller hatte der Zar anscheinend allen Grund zum Feiern. Die Stimmen der Unzufriedenen in der Semstschina waren zum Verstummen gebracht worden. Tiefe Finsternis brach nun über Russland herein. Harte Strafen ereilten nicht nur die Verschwörer, sondern auch alle, die im Verdacht standen, ihnen wohlgesinnt zu sein. Die Opritschnina-Führer feierten zwar ihren Sieg, doch der Jubel war verfrüht. Es verstrich nur ein Jahr, und wütender Terror fegte nicht nur die Gegner der Opritschnina hinweg, sondern auch diejenigen, die sie aufgebaut hatten. 1570 begann Phase Drei in Iwans Herrschaft: „Die große Zerrüttung“.

    Seit dem Feldzug von Kasan befand sich Russland zwanzig Jahre quasi permanent im Kriegszustand, das zeigte Auswirkungen auf die Wirtschaft. Die Adeligen, die Pferde, Reiter und Waffen zu stellen hatten, zwangen ihre Untertanen in Frondienst und zunehmende Zinsknechtschaft. Die Bauern konnten die Belastungen schließlich nicht mehr tragen und die Dörfer verödeten. Die Jahre ab 1568 brachten drei Missernten, die Brotpreise explodierten und trieb die einfachen Leute in den Hungertod. Die Not wurde so groß, dass die Menschen begannen, heimlich das Fleisch der Toten einzulegen. Dem Hunger folgte die aus dem Westen eingeschleppte Pest, die 1570 achtundzwanzig Städte erfasste.



    Die Nowgoroder bestatteten im Herbst 10.000 Tote in Massengräbern. Um der Situation Herr zu werden, errichtete man auf allen Wegen Militärposten: Jeder, der versuchte, die von der Pest betroffenen Orte zu verlassen, wurde ergriffen und zusammen mit seinem Besitz, Pferden und Fuhrwerken bei lebendigem Leibe verbrannt. In den Städten wurden die verseuchten Höfe mitsamt Leichen, aber auch gesunden Menschen mit Brettern vernagelt. All diese Maßnahmen erwiesen sich jedoch als ineffektiv. Die drei Hunger- und Pestjahre forderten hunderttausende Opfer. Die Opritschnina-Regierung war derweil voll mit der Verfolgung von Verrätern beschäftigt, gegen das Leid der Menschen taten sie nichts. Iwan IV. verschanzte sich mit seinen getreuen Häschern in der Festung von Sloboda. Offiziell hieß es, der Zar „ruhe sich dort aus“.

    Er war von den Nachrichten aus Schweden alarmiert, dort war ja sein Verbündeter Erik XIV. von den Adeligen gestürzt worden. Iwan IV. war überzeugt, dass auch er sich vor einem ähnlichen Putsch zu fürchten hatte. Es entsprach nicht seinem Typus, auf ein Anzeichen dafür zu warten – er inszenierte stattdessen einen Giftanschlag auf seine Person, um die Initiative zu ergreifen. Die Opritschnina beschuldigte die Familien der Wladimir und der Starizki, hinter dem Attentat zu stecken. Darunter waren einige, mit denen Iwan selber verwandt war. Um sich nicht zum Henker seines eigenen Blutes zu machen, zwang der Zar diese Beschuldigten, mitsamt ihrer Familien Selbstmord zu begehen. Anschließend suchte der Terror sich ein neues Ziel: Nowgorod.

    Bis zum 2. Januar 1570 hatten die Nowgoroder nicht gedacht, dass es noch Schlimmeres geben könnte als Gottes Strafe. Aber an diesem Tag traf sie der Zorn des Zaren. Auf der Straße zur Stadt waren die dunklen Reiter der Opritschnina zu sehen, Höllenbewohner nannten sie das Volk. In kurzer Zeit besetzten sie alle Straßen nach Nowgorod und sperrten sie mit Schlagbäumen. Es hieß, man müsse die Pest eindämmen, daher die Sperrungen. Die weiteren Aktionen der Opritschnina ließen jedoch anderes erwarten. Kleinere Abteilungen der Reiter stürmten einige Klöster der Stadt und führten die Popen und Mönche in Ketten ab. Vier Tage lang blieben die Stadtbewohner in quälender Ungewissheit, was die Opritschniken überhaupt vorhaben. Dann kam der Herrscher selbst mit seinem Sohn und zog am 8. Januar 1570 in Nowgorod ein, um Gericht zu halten. Ein Gericht, von dem sich Nowgorod nicht mehr erholen würde. Iwan IV. verkündete, er wolle zuallererst der Messe in der Kathedrale beiwohnen. Als ihm die Kleriker der Stadt auf einer Brücke entgegen kamen, um ihn zu begrüßen, ereignete sich der Eklat: Iwan weigerte sich, von ihnen den Segen zu empfangen! Zornig beschimpfte er sie, Verräter zu sein und mit den Polen gegen ihn zu paktieren. Ähnlich wie bei Filipp befahl der Zar den zu Tode erschrockenen Klerikern gleichwohl, die geplante Messe für ihn abzuhalten. Das Strafgericht begann nämlich erst nach dem Gottesdienst. Die Kleriker wurden festgenommen, ihre Kirche ausgeplündert.



    Am nächsten Tag befahl Iwan IV. die Hinrichtung von vielen der Beschuldigten. Sie wurden bei lebendigem Leibe an Eisenstangen über Feuern geröstet, bis sie ihren „Verrat“ gestanden. Anschließend verdrehte man ihnen die Gliedmaßen, schleifte sie aus der Stadt und warf sie von einer eigens errichteten Plattform in den Fluss Wolchow. Wem es trotz allem gelang, den Kopf über das eiskalte Wasser zu halten, den erschlugen die Opritschniken von Booten aus mit Beilen oder Spießen. Drei Wochen lang gingen die Folterungen und Hinrichtungen Tag für Tag weiter, bis knapp 400 Würdenträger Nowgorods exekutiert waren. Noch immer wusste in der Stadt niemand, warum der Zar sie eigentlich strafte. Als die Hochadeligen, Amtsleute und Boten alle getötet waren, gingen die Opritschniken auf die Klöster im Umland von Nowgorod los. Alles von Wert wurde aus den Klöstern geraubt, die Mönche und Nonnen zu hohen Geldstrafen verurteilt. Dann waren die Kaufleute der Stadt an der Reihe, ihre Speicher und Kontore wurden gestürmt und geplündert. Eine reiche Beute! Die Stadt lag zu einem guten Teil in Rauch und Asche, der Hunger und die Not der Bevölkerung wurde mörderisch. Oh, das ist schlecht, entschied der Zar: Man müsse die Stadt nun von den „Bettlern“ säubern. Die hungernden Männer, Frauen und Kinder wurden aus Nowgorod hinaus in die eisigen Ebenen getrieben, wo sie einem düsteren Schicksal überlassen wurden. Der Zar und seine Opritschniki hatten sich nicht nur an den Reichtümern Nowgorods bereichert, sie hatten der Stadt auch das Rückgrat gebrochen, damit sich die Bürger niemals für das erlittene Leid rächen konnten.
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    Und durch seine Klugheit wird ihm der Betrug geraten, und er wird sich in seinem Herzen erheben, und mitten im Frieden wird er viele verderben und wird sich auflehnen wider den Fürsten allen Fürsten.

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    Iwan IV. Grosny

    Das gleiche Spiel begann Iwan IV. anschließend mit der Stadt Pskow. Die Opritschnina rückte in seinem Schlepptau in die Stadt und begann, die Kirchen auszuplündern. Aber plötzlich brach der Zar den laufenden Pogrom ab und kehrte mit seinen Gesellen nach Moskau zurück. Man weiß nicht, warum Iwan diese Entscheidung gefällt hat. Eine Legende besagt, ein schwachsinniger Narr namens Nikola habe ihm ins Gesicht gesagt, er solle sich nicht weiter an Gottes heiligen Kirchen versündigen. Offenbar hielt der entsetzte Iwan IV. ihn für eine Erscheinung Christi. Eine nüchterne Erklärung dagegen ist, dass der Klerus von Pskow sowieso bereits bis auf das letzte Hemd ausgeplündert und der Stadtadel zügig hingerichtet worden war. Die Blutarbeit hatte den Zaren wohl bereits zufriedengestellt. Die Zerstörung von Pskow und vor allem Nowgorod waren ebenso grauenhaft wie sinnlos. Der Zar und die Opritschnina hatten sich kurzfristig die Taschen reichlich gefüllt, aber zu welchem langfristigen Preis? Die gesamte Gegend war auf lange Zeit wirtschaftlich zerstört.

    Ganz ohne kirchliche Unterstützung ging es auch für die Opritschnina, selbst im zerstörten Nowgorod, nicht. Nach zwei Jahren befand man, dass die seit der Verhaftung von Pimen vakante Position des Nowgoroder Erzbischofs besetzt sein sollte. Der handverlesene Kandidat der Opritschnina für dieses Amt war der Moskauer Leonid, der sogleich daran ging, von seinen neuen Untertanen Geschenke zu erpressen und Almosengelder zu unterschlagen. Er war prinzipienlos, gierig, verschlagen und korrupt. Aber er unterstützte die Politik der Opritschniken, und das alleine zählte.



    Die wollten ungestört ihre Macht ausüben und ihre Geschäfte treiben. Dank der beschlagnahmten Handelsinfrastruktur Nowgorods und der Einführung umfangreicher Frondienste hatten sie die Werkzeuge dazu in der Hand. Ironischerweise waren es ausgerechnet die Opritschniken, die es den Engländern als erste Ausländer erlaubten, hier Kapital zu investieren.

    Die „alten“ Behörden in Nowgorod wurden von der Opritschnina schikaniert (wenn die alten Amtsträger nicht bereits ermordet waren). Ein Opritschnik namens Ossorjin kam im Herbst 1571 auf die amüsante Idee, die Amtsstuben der Semstschina mit einem Bären sowie Possenreißern aufzusuchen. Zu Tode erschreckt, sprangen die Beamten aus den Fenstern. Der Leiter der Behörde versuchte, Ossorjin zur Vernunft zu bringen, aber der schlug ihn blutig und sperrte ihn zusammen mit dem Bären in ein Zimmer. Die Geschichte ging nicht gut aus, und damit meine ich nicht den Bären.

    Es ging für Iwan und seine Vertrauten zurück nach Moskau, hier zerschlug man jetzt den angeblichen Verschwörerkreis um den Siegelbewahrer Wiskowaty.



    Die Opritschnina hätte gerne die komplette Moskauer Bevölkerung bestraft, doch dieses Mal setzten sich offenbar die etwas Vernünftigeren durch. Man pickte mit Wiskowaty etwa 300 weitere „Verräter“ heraus, die am 25. Juli 1570 mit großem Tamtam auf dem Moskauer Marktplatz öffentlich hingerichtet werden sollten. Weil der Platz von Bewaffneten umstellt war, forderte das Volk mit gespieltem Zorn den Tod der Verräter. Und mit großzügiger Geste, die ebenso gespielt war, begnadigte Iwan IV. rund die Hälfte der Delinquenten. Für die anderen jedoch gab es kein Pardon. Mit dem Rädelsführer Wiskowaty begann man: Die Opritschniki wollten erreichen, dass er öffentlich seine Verbrechen eingestand und den Zar um Gnade anflehte. Doch auf alles Zureden reagierte der stolze Siegelbewahrer lediglich mit Verwünschungen: „Seid verflucht, ihr Blutsauger, ihr und euer Zar!“ Das waren seine letzten Worte.

    Man entkleidete Wiskowaty und band ihn an ein Kreuz. Ein eifriger Opritschniki namens Skuratow teilte ihn bei lebendigem Leib in Stücke. Anschließend erging es dem Schatzmeister Funikow ähnlich, auch er verfluchte stolz seine Peiniger und weigerte sich, jede Schuld einzugestehen. Ihn übergoss man abwechselnd mit siedendem und eiskaltem Wasser. Alles in allem dauerten die Hinrichtungen unter den Augen des Zaren geschlagene vier Stunden. Skuratow gewann mit seinem skrupellosen Handeln (er hatte schon in Nowgorod wie kein Zweiter gewütet) das Vertrauen des Zaren, er belohnte ihn mit der Leitung des Kriminalamtes der Opritschnina: der Posten entsprach dem eines Geheimdienstchefs.



    Mit Skuratows Berufung begann die letzte Phase des Terrors, die der internen Säuberungen. Skuratow verleumdete beim Zaren die meisten führenden Opritschniki, und der reagierte auf die angebliche Gefahr wie üblich mit Folter und Tod. Bis Ende 1572 wurde fast die gesamte Elite der Schutztruppe exekutiert und durch junge, ehrgeizige Nachrücker ersetzt. Unter diesen Nachrückern befanden sich sogar Leute, die vorher ihre Familien durch den Terror der Opritschnina verloren hatten. Kein Wunder, dass besonders diese Personen zuverlässig dafür sorgten, dass die alten Opritschniki nun ihrerseits vernichtet wurden. Die Organisation wurde in ihrem Innersten tief erschüttert. Auch vor Alexej Basmanow, Iwans einstigem Liebling und Chef der Opritschnina, machte die Säuberung keinen Halt (Basmanow wird ab 1571 in keiner Quelle mehr erwähnt. Angeblich war er vom Zaren in ein abgelegenes Kloster verbannt worden, wo er an einer Krankheit gestorben sein soll. Andere Theorien, darunter eine des Schriftstellers Tolstoi, gehen von einer Hinrichtung des gestürzten Basmanow aus.)



    Wen wundert es nach all dem, dass es militärisch nicht rund lief für Russland? Die Belagerung von Reval endete als Fehlschlag, und noch schlimmer, einige russische Befehlshaber liefen zum Feind nach Litauen über. Zunächst versuchte Iwan IV. die Geflohenen durch Ermahnungen zur Rückkehr nach Moskau zu bewegen. Später forderte er von Polen-Litauen ihre Auslieferung. Als der Zar daraufhin eine Absage erhalten hatte, ließ er zahlreiche livländische Gefangene hinrichten. Polen schickte trotzdem Gesandte, die den Auftrag hatte, über einen Frieden zu verhandeln. Wie wäre es denn, schlugen die Polen dem Zaren vor, wenn ihre Länder gemeinsam gegen die Türken marschieren würden? Quatsch, antwortete Iwan, und er stellte so hochmütige Bedingungen, dass sie für Polen unannehmbar waren. Offenbar war der Zar davon überzeugt, es mit Polen und Schweden weiterhin aufnehmen zu können.

    Das war die Situation, als Iwan IV. von einer Invasion der Tataren in den Süden Russlands überrascht wurde. Es gab zwar einen Grenzschutz, aber der hatte sich wohl nicht getraut, Meldungen vom beobachteten Truppenaufmarsch nach Moskau zu melden – sie waren zuvor wegen eines Fehlalarms vom Zar bestraft worden. An der Invasion beteiligten sich die Tataren der Krim, die Horde von Nogai, die Tscherkessen, sowie andere Wolgavölker, die die russische Herrschaft abschütteln wollten.

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  15. #570
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    Iwan IV. Grosny

    Die Truppenstärken waren eindeutig verteilt: Während die Tataren 40.000 Reiter aufboten, standen ihnen nur 6.000 Russen an der Grenze gegenüber. Da braucht man gar nicht zum Kampf antreten. Der Großteil des russischen Heeres befand sich nämlich in Livland. Iwan IV. musste schnell einsehen, dass der ganze Süden bis nach Moskau nicht zu halten war und zog sich in die Hauptstadt zurück, um hier eine Verteidigungslinie aufzubauen. Im Mai 1571 standen die Tataren vor der Hauptstadt. Obwohl es bis dato nur kleinere Gefechte in der Umgebung Moskaus gegeben hatte, ging die Stadt am 23. Mai bei klarem, windstillen Wetter plötzlich in Flammen auf. Dem Brand fielen viele der russischen Truppen und ihrer Woiwoden, ihrer Befehlsführer, zum Opfer. Nur etwa 300 kampffähige Soldaten blieben übrig. Klar, dass die Tataren von der Aussicht auf leichte Beute in Moskau einfielen. Dummerweise kamen sie dabei in den gleichen Flammen um wie ihre Gegner. Das Heer der Tataren zog sich am Tag nach diesem Debakel nach Süden, Richtung Heimat, zurück. Natürlich plünderten sie munter alles, was dabei auf ihrem Wege lag. Dem Zaren schickte man einen Krimboten, der Iwan IV. einen Dolch „zum Andenken“ überreichte.



    Die russische Regierung war sich bewusst, dass das verwüstete Land außerstande war, den Krieg gegen einen so starken Gegner wie das Krim-Khanat und dessen Schutzmacht, das Osmanische Reich, fortzusetzen. Man musste Frieden anbieten, wie wäre es mit der Abtretung der Provinz Astrachan? Nein, das reichte bei diesem Warscore bei weitem nicht, eine Einigung zu erzielen. Das Wolgagebiet war militärisch verloren, Nogai hatte seinen Vasallenstatus aufgekündigt und konnte dafür nicht bestraft werden. Dem Zaren fiel nichts anders ein, als Moskau aufräumen und neu befestigen zu lassen. Und, außerdem: Während der Invasion hatten doch einige russische Bojaren mit dem Feind konspiriert, oder? Mal wieder wurden verschiedene Adelige unter dem Vorwurf „gewisser Machenschaften“ verhaftet und mit Stöcken totgeschlagen.

    Iwan IV. war so misstrauisch, dass er auch seinen Sohn und Erben Iwan verdächtigte. Der junge Mann war beim russischen Adel einfach zu beliebt, das gefiel dem Zaren gar nicht. Die Bojaren sahen in dem Erben einen Hoffnungsträger, war das nicht eine Gefahr für den alten Zaren? Die Beziehungen zwischen Vater und Sohn waren angespannt. Es kam nicht selten vor, dass der jähzornige und despotische Zar seinen 17jährigen Sohn verprügelte. Zwischendurch spielte Iwan IV. gar mit dem Gedanken, seinen Thron ausgerechnet an den livländischen König Magnus zu vererben.

    Auch die Opritschnina hatte jetzt nicht mehr das Vertrauen des Zaren. Denn ihre neue Führungsriege unter Skuratow hatte schließlich allerlei Abweichler und Verräter in den eigenen Reihen „aufgedeckt“ und vernichtet. Die Selbstzerstörung der schwarzen Bruderschaft war keine zufällige Entwicklung, sie war ein gewollter Zug des Zaren: Iwan IV. war der Opritschnina überdrüssig geworden. Sie hatte ihren Zweck erfüllt, nachdem sie jeder nur denkbaren Opposition das Rückgrat gebrochen hatte. Ende 1572 löste Iwan die Opritschnina unspektakulär komplett auf. Die Männer wurden in die Armee und die normale Verwaltung eingegliedert, die Finanzen und Ländereien wieder mit jenen des Staates zusammengelegt. Skuratow starb 1573 an einer schwedischen Kugel, andere Führer der Opritschnina endeten am Eisenspieß über dem Feuer der Folterknechte. Die Masse der gewöhnlichen Opritschniki aber wurde nie vor einem Gericht zur Verantwortung gezogen. Der Zar wollte auch keine Debatte zu dem Thema mehr hören: Per Erlass verbot er unter Androhung der öffentlichen Auspeitschung, dass niemand die Opritschnina überhaupt noch erwähnen dürfe. Es sollte so sein, als ob es die schwarze Truppe nie gegeben hätte.

    Zusammenfassend kann man sagen: Obwohl der Terror tiefe Spuren im Leben der russischen Gesellschaft hinterlassen hatte und die Führer der herrschenden sozialen Gruppen noch lange von blutigen Alpträumen heimgesucht wurden, konnte die Opritschnina insgesamt weder die politische Struktur der Monarchie noch die Bedeutung der Duma als höchstes Staatsgremium oder die Rangplatzordnung, die die Privilegien des Adels schützte, erschüttern. Trotzdem kamen die Gräueltaten der Opritschniki, die eine Unmenge von Menschenleben dahinrafften, kamen dem Land teuer zu stehen.

    Andere Leute aus dem Dienstadel hatten jetzt die Chance, sozial nach oben zu kommen: Zum Beispiel übernahm Godunow das Amt des Kämmerers. Durch die Heirat seines Neffen Boris (des späteren Zaren 1598-1605) mit der Tochter des da noch allmächtigen Skuratow hatte sich Godunow während der Phase des Opritschnina-Niedergangs in eine sichere Position gebracht. Dann gab es noch den westfälischen Astrologen Bomelius. Der verstand es, den Argwohn des Zaren geschickt auszunutzen, sagte Unheil voraus und gab Ratschläge, wie man es überwinden könne. Moralisch kaum anders war der neue Hofarzt Belski gestrickt, er mischte Gifte zur Beseitigung von in Ungnade gefallenen Hofbeamten.

    Während Russland wegen dieser „Umorganisationen“ im Inneren mit sich selbst beschäftigt war, zogen die Krimtataren erneut an der südlichen Grenze auf. Dem Khan ging es inzwischen nicht mehr nur darum, das Wolgagebiet zu beherrschen, er wollte Moskau wieder in seine Abhängigkeit zwingen, so wie es früher gewesen war. Gegenüber dem Sultan prahlte er, er würde innerhalb eines Jahres ganz Russland erobern und Zar Iwan als Gefangenen auf die Krim bringen. Es waren keine hohlen Worte, die Tataren hatten jetzt mehr als 60.000 Reiter im Heer, außerdem Kanonen samt ausgebildeter Mannschaften von den osmanischen Freunden dabei. In Moskau bereitete man sich auf die neue Invasion vor: Der ganze Süden Russlands wurde von den eigenen Leuten verwüstet, damit die Tataren hier kein Weidefutter für ihre Pferde vorfinden konnte. Im April 1572 konzentrierte das Moskauer Oberkommando rund 20.000 Soldaten (den Großteil des russischen Heeres) südlich von Moskau am Fluss Oka. Diese befestigten Stellungen mussten die Invasion aufhalten. Das weite Land konnten die Tataren ohne Mühe durchqueren und nehmen, aber um Moskau herum gerieten sie tatsächlich in Schwierigkeiten, zwei Schlachten endeten mit jeweils einem Sieg für jede Partei. Dann aber wurde die Nachhut der Tataren bei einem russischen angriff vernichtet. Der gesamte Krieg stand auf des Messers Schneide, die entscheidende Schlacht erfolgte am 30. Juli 1572 vor Moskau. Die Russen konnten den Tataren groß Verluste beibringen und behaupteten das Feld, aber es war ein Pyrrhussieg, der jederzeit in eine Niederlage umkippen konnte. Noch immer waren die russischen Soldaten in ihrer Festung verschanzt, umzingelt von den Feinden. Schrecklicher Durst quälte sie, denn sie hatten keinerlei Zugang zu Wasser. Dann taten die Tataren ihnen den „Gefallen“, mit aller Macht anzugreifen, weil der Krim-Kommandeur den Befehl erhalten hatte, den Russen die Festung um jeden Preis zu entreißen.Trotz gewaltiger Verluste versuchten die Tataren, die wackeligen Mauern der Festung zu erklimmen. „Sie klammerten sich dabei mit den Händen an die Mauern der Festung, und so hat man viele Tataren niedergemetzelt und unzähligen die Hände abgeschlagen.“ Nach dem Rückzug der Tataren führten die Russen am Abend einen Gegenangriff, mit dem sie den Belagerungsring endgültig zersprengten. Viele der Tataren wurden getötet oder gefangen genommen, darunter sowohl ein Sohn als auch ein Enkel des Krim-Khans. Außerdem fielen viele Heerführer der Krim und von Nogai den Russen in die Hände. In den folgenden Tagen verfolgten die Russen den Gegner und vernichteten weitere 5.000 Reiter der Nachhut. Diese Schlacht bei Molodi zählt zu den markantesten Ereignissen in der Kriegsgeschichte des 16. Jahrhunderts, Russland versetzte der Krim einen entscheidenden Schlag. Die Expansion der Krimhorde und der Osmanen in Osteuropa war gestoppt.



    Drei Jahre verstrichen. Die Untertanen begannen das unsinnige Unternehmen des Zaren, die Opritschnina, langsam zu vergessen. Doch da begannen sich die Wolken einer neuen Opritschnina zusammenzuziehen. 1575 legte Iwan IV. zum zweiten Mal seine Krone nieder und setzte den in seinem Dienst stehenden tatarischen Khan Simeon auf den Thron. Der Tatar zog in die Zarengemächer ein. Iwan fuhr jetzt schlicht wie ein Bojar durch Moskau, nahm im Kreml weit entfernt vom „Großfürsten“ Platz, der selbst auf einem prächtigen Thron saß. Was zum Teufel war geschehen? Sicher weiß man es nicht, weil die Ursachen sich hinter den Kulissen abgespielt hatten.

    Ein Jahr vor der Krönung Simeons war Iwan IV. eine neue Ehe eingegangen, die Braut hieß Anna. Eigenartig ist, dass alle Teilnehmer der kleinen Hochzeitsfeier kurz darauf in Ungnade fielen. Niemand von ihnen ahnte, wie kurz der Weg vom Hochzeitsbankett zum Schafott sein würde. Kurz vor der Hochzeit besuchte Iwan mit seinen engsten Vertrauten die Folterkammer. Dort fragte er die Bojarenknechte, die mit Feuer gefoltert wurden: „Welche unserer Bojaren verraten uns?“Und dann fing er selbst an, Namen zu nennen – ausgerechnet die Namen seiner Vertrauten, die direkt neben ihm standen. Er scherzte, doch den Bojaren stockte vor Schreck das Blut in den Adern. Aus dem Scherz wurde noch blutiger Ernst. Im August 1575 setzte sich die Terrormaschine wieder in Gang, viele Mitglieder des Hofes wurden verhaftet. Der berüchtigte Leibarzt Bomelius erkannte, dass sich das Netz seiner eigenen Intrigen um ihn schnürte und beschloss, aus Russland zu fliehen. Er nähte reichlich Gold in das Futter seiner Kleidung und machte sich auf zur Westgrenze. In Pskow fiel der fremde Reisende auf, wurde verhaftet und in Ketten nach Moskau gebracht. Iwan, der über den Verrat seines Günstlings empört war, ließ Bomelius an einen riesigen Spieß binden und mit Feuer foltern. So denunzierte der Hofarzt den korrupten Nowgoroder Erzbischof Leonid und viele andere Prominente, um seinen Kopf zu retten. In Moskauer Dokumenten wurde kurz darauf trocken vermerkt, der Erzbischof Leonid sei „am 20. Oktober 1575 verschieden“. Vier Tage später folgten zahlreiche Hinrichtungen an Geistlichen, die in Nowgorod sowohl Leonid wie auch der Opritschnina nahegestanden hatten. Nebenher exekutierte man so manche Hexe, denn jemand musste Schuld haben an der desaströsen wirtschaftlichen Lage, in der sich das Land befand. Auf die Idee, dass die allgemeine Not eine Folge der eigenen Politik war, wollte niemand im Kreml kommen. Im November 1575 wurden weitere ehemalige Führer der Opritschnina, die bislang verschont geblieben waren, getötet.

    Die ganzen Hinrichtungen ereigneten sich kurze Zeit nach der Abdankung des Zaren, als Simeon bereits auf dem Thron saß. Iwan IV. hatte nacheinander mit seinem Hofstaat, mit den Nowgoroder Verrätern und dann mit den Resten der Opritschnina abgerechnet. Nach seiner Abdankung hatte er innerhalb eines Monats eine „neue Opritschnina“ gebildet, die er „Teilfürstentum“ nannte, und mit ihr vernichtete er die prominentesten Bojaren der Semstschina.

    Von Zeitgenossen erfahren wir nur, dass die Ursache der neuerlichen Grausamkeiten ein Zwist in der Zarenfamilie gewesen sei. Iwan IV. verdächtigte seinen Sohn, einen Putsch zu planen, daher setzte er kurzerhand die Marionette Simeon auf den Thron. Daraufhin hätten die Bojaren Iwan ermahnt, es schicke sich nicht für einen Zaren, seine Kinder zu umgehen und einem Fremden den Staat zu überlassen. Zornig habe der Zar daraufhin befohlen, diese „Widersacher“ hinzurichten. Doch wie sehr Iwan auch gegen die Bojaren und andere wütete, seinen eigenen Sohn klagte er nicht an (er verprügelte ihn nur mit seinem Eisenstock).



    Die Abtretung seines Thrones an den Tataren Simeon war offenbar nur ein boshafter Witz: Iwan rief den russischen Untertanen damit die verhasste Tatarenherrschaft vergangener Tage ins Gedächtnis, außerdem konnte er bei Simeon sicher sein, dass er ihn bei Bedarf sofort wieder von der Macht entfernen konnte, denn Simeon hatte als Ausländer so gar keinen persönlichen Thronanspruch. Bei der Einsetzung Simeons zum Großfürsten hatte Iwan zudem absichtlich traditionelle bzw. protokollarische Schritte missachtet, auf dass die ganze Prozedur ohne weiteres angefochten werden konnte. Immerhin: Der Spuk wurde ein ganzes Jahr aufgeführt, erst dann entfernte Iwan den Marionetten-Großfürsten wieder vom Thron. Erstaunlich ist, dass Simeon nicht liquidiert wurde, sondern nach seinem Rücktritt zum „Großfürsten von Twer“ ernannt wurde. Auch die neue Opritschnina namens „Teilfürstentum“ hatte seinen Zweck jetzt erfüllt, diese Organisation spielte künftig keine wesentliche Rolle mehr.
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    Und durch seine Klugheit wird ihm der Betrug geraten, und er wird sich in seinem Herzen erheben, und mitten im Frieden wird er viele verderben und wird sich auflehnen wider den Fürsten allen Fürsten.

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